Beim Staatsballett Berlin feiert Frederick Ashtons „Sylvia“ Auferstehung
Nymphe von immenser Strahlkraft
Frederick Ashtons „Sylvia“ beim Staatsballett Berlin
Nun also „Sylvia“ als erneuter Versuch, Frederick Ashton dem hiesigen Ballettpublikum schmackhaft zu machen! Wir wissen inzwischen alle um die balletthistorische Bedeutung von Sir Fred, von seiner Verehrung und Popularität, die er besonders in England und Amerika genießt – auch für welche Furore die Neueinstudierung von Ashtons 1952er-Klassiker anlässlich seines 100. Todestages 2004 beim Royal Ballet in London (und anschließend beim American Ballet Theater) sorgte. Und haben erlebt, wie alle Einbürgerungsversuche Ashtons hierzulande durch Importe seiner Ballette mittels eigener Einstudierungen und Gastspiele vom Publikum und der Kritik wenig goutiert wurden – mit der einzigen Ausnahme seiner „Fille mal gardée“, die sowohl in Stuttgart wie in München, Hamburg und Wien ein Renner ist.
Die zweite Vorstellung der Berliner „Sylvia“-Einstudierung von Christopher Newton, einem jüngeren Weggefährten von Ashton, in der Londoner Originalausstattung von Robin und Christopher Ironside mit den Ergänzungen von Peter Farmer – und also mit Royal-Ballet-Gütesiegel versehen. In der Berliner Premierenbesetzung mit der rechtens umschwärmten Polina Semionova in der Titelrolle und Vladimir Malakhov als einem schon etwas angejahrten, verletzungsbedingt leicht gebremsten Aminta. Die Deutsche Oper gut besucht, aber keineswegs ausverkauft – der dritte Rang gar nicht erst aufgemacht. Das Publikum durchaus zustimmend, aber nicht vergleichbar mit dem Enthusiasmus der Stuttgarter bei solchen Gelegenheiten. Die Kritik im Allgemeinen freundlich-wohlwollend, mit Ausnahme des eher kritische Töne anschlagenden „Tagesspiegels“.
Und meine eigene Reaktion? Hin- und hergerissen – allerdings mehr her als hin! Als großer Petipa-Verehrer schätze ich Ashtons „Sylvia“ als seine wohl direkteste Anknüpfung an die Petipaschen Feerien-Klassiker aus St. Petersburg. Mit den wesentlich verfeinerten Stilmitteln der damals ja noch sehr jungen englischen Tradition, seiner Sensibilität, seiner exquisiten Musikalität, seinem weitgehenden Verzicht auf jegliche Direktpantomime und deren Überführung in einen weichen, kantablen Fluss. Ashton erzählt die bukolische Geschichte von den Liebeswirren der Nymphe Sylvia und des Hirten Aminta sozusagen im Recitativo-accompanato-Stil mit vielen interpolierten Virtuositätsnummern, sei es als Soli, Pas de deux, kleinere Ensembles und größere Corps-Formationen. Die drei Akte quellen förmlich über von tänzerischen Piecen der feinsten englischen Machart.
Gleichwohl: wirklich genießen kann man das wohl nur unter Berücksichtigung seines historischen Stellenwertes. Indem man die Uhr seines Zeitbewusstseins um ein gutes halbes Jahrhundert zurückstellt. Diese Überausstattung! Dieser Plunder an Kostümen! Diese wild wuchernden Landschaftsprospekte! Diese Schaueffekte mit den Verwandlungen und technischen Maschinenmätzchen! Und darin diese einfältigen Liebeständeleien, diese gespreizte Natürlichkeit samt neckischem Geturtel: das alles mag ja 1950 gut und schön und superprächtig gewesen sein – mutet aber heutzutage doch sehr antiquiert und überladen an. Und wird auch durch die gewissenhaft exekutierte Ausführung der Newtonschen Einstudierung nicht lebendiger und schon gar nicht mit jener virtuosen Chuzpe präsentiert, die derlei Nippes heute noch erträglich erscheinen lässt.
Dabei ist die Berliner Produktion durchaus hochkarätig besetzt – außer den beiden Stars mit Ibrahim Önal als bösem Jäger Orion, mit Rainer Krenstetter als Gott der Liebe und Viara Natcheva als Diana. Und die Ballettmeister und -innen haben vorzügliche Arbeit geleistet, wenn sie auch nicht in der Lage waren, den Berliner Tänzern jene britische Teacup-Gentility einzuflößen, über die ihre englischen Kollegen von Natur aus verfügen. So dass Ashtons Home-and-Country-Arrangements doch alles in allem leicht preußisch-pedantisch wirken.
Wenn man die Berliner Aufführung gleichwohl jedem Ballettenthusiasten ans Herz legen möchte, dann vor allem Polina Semionovas wegen, die eine wahre Traum-Sylvia ist, von idealer Gestalt, schwerelosen Leichtigkeit und Grazie, sportgestählt und dabei doch ungemein feminin. Zunächst eine unerbittliche Fundamentalistin der Keuschheit, wandelt sie sich, vom Pfeil Eros‘ getroffen, zu einer herzzerreißend verzweifelten Liebenden, bietet sodann all ihren Charme auf, ihrem Entführer Orion die Sinne zu umnebeln und ihrer Gefangenschaft zu entfliehen, um am Schluss doch noch mit dem tot geglaubten Aminta vereint zu werden und das Glanzstück von Delibes‘ Partitur, die berühmte Pizzicato-Variation zu absolvieren – von Ashton als feinst ziselierte „Spitzen“-Klöppelei choreografiert – und zusammen mit Malakhov im Grand Pas de deux ein Paradebeispiel russisch-französischen Ballettklassizismus zu zelebrieren.
Werden die Berliner nun wohl die künftigen „Sylvia“-Vorstellungen stürmen? Ich fürchte, nein! Ich wünschte mir allerdings, dass man einmal den Versuch mit einer abgespeckten Version des Ashton-Klassikers unternehmen würde – schon der delikaten Musik Delibes‘ wegen, die den Produkten der Adams, Minkus und Drigo so unendlich überlegen ist und selbst in einer so routinierten Wiedergabe wie vom Orchester der Deutschen Oper Berlin unter dem etwas grobschlächtigen Benjamin Pope ihren eigenen Charme entfaltet. Dem doch etwas anderen deutschen Geschmack kommt die John Neumeiersche Version, die er für die Pariser Opéra kreiert und nach Hamburg übertragen hat, jedenfalls weit mehr entgegen. Die beste, spritzigste, spannendste und lustigste „Sylvia“, die ich je gesehen habe, war jedenfalls die von Laszlo Seregi in den sechziger Jahren in Budapest – vielleicht ja weil Seregi seine Produktion mit einer Prise Paprika gewürzt hatte.
Ich kann mich nicht enthalten, meinem Journal als Finale noch ein Zitat des verehrten Hanslick anzuschließen, der, ein großer Bewunderer der Musik von Delibes, in seiner „Sylvia“-Rezension stoßseufzte: „Das ist alles sehr schön, aber herzlich langweilig, wie die mythologischen Ballett- und Opernstoffe überhaupt. Du guter Gott, was gehen uns die Gottheiten an? Die zärtlichen Liebespirouetten von Nymphen und Schäferinnen, die begeisterten Bocksprünge unsauberer Faune, diese immer sprungbereite Allmacht Dianas oder Amors – für wen haben sie noch ein dramatisches Interesse?“ Kaum für das Berliner Theaterpublikum von 2007, fürchte ich.
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