Ehrenrettung eines verhinderten Klassikers

Das Bolschoi-Ballett gastierte mit „Schwanensee“ und „Der helle Bach“ in der Berliner Lindenoper

Berlin, 22/10/2007

Zu den Kompanien mit dem Glanz des Außerordentlichen gehört das Bolschoi-Ballett: 1776 in Moskau begründet, mit einer wechselvollen Historie belohnt wie beladen. Es hat blaublütige und rotgläubige Zaren, Brände, Kriege und Intrigen überstanden, bedeutende Künstler sich entwickeln sehen und steht nun unter der Leitung des international umtriebigen Enddreißigers und gebürtigen Petersburgers Alexej Ratmansky. Seit 2004 praktiziert er mit seinen 220 Tänzern den Spagat zwischen Tradition und Aufbruch. Beim ersten Berlin-Gastspiel der Kompanie nach über 20 Jahren, mit Ballett und Orchester, insgesamt 220 Mitwirkenden, konnte er zwei der Pole seiner Repertoirepolitik in je zwei Besetzungen vorstellen.

Als Signaturwerk sieht er Tschaikowskis „Schwanensee“, 1877 im Bolschoi uraufgeführt. Ratmanskis langjähriger Vorgänger Juri Grigorowitsch überarbeitete 2001 seine erfolgreiche Fassung von 1969, die die choreografischen Juwelen vieler älterer Meister einer eigenen Inszenierung einlegte. Seine Deutung der tragisch vereitelten Liebe zwischen Prinz Siegfried und der Schwanenprinzessin Odette wurzelt ganz in der russischen Überlieferung und der nationalen Mentalität. Entgegen der westeuropäischen Praxis, die Erkenntnisse seit Freud sowie Details der Tschaikowski-Vita einfließen zu lassen und so insbesondere die Figur des Prinzen realer zu konturieren, siedeln Grigorowitschs Gestalten im Märchen. Auch wenn er den Zauberer Rotbart als Siegfrieds innewohnenden Geist des Bösen deklariert, bleibt die Rolle in ihrer choreografischen und kostümlichen Zeichnung ein Fabelwesen. Der Narr gilt heute als dramaturgisch entbehrlich, Siegfrieds Erzieher kommt hier über Figuranten-Funktion nicht hinaus. Dass der Prinz am Ende für seine Untreue mit einem Weiterleben in Schuld bestraft wird, statt mit der Geliebten in den Wassertod zu gehen, mag auf die politischen Restriktionen zurückgehen, denen Grigorowitsch bei der Premiere 1969 ausgesetzt war. Den Genuss an einer logisch erzählten Geschichte kann das nicht trüben.

Für den 1. und 3. Akt entwarf Simon Wirsaladse einen etwas düsteren Schlosssaal mit Turmsitzen für die Herolde und gotisch aufragenden Bögen; Akt 2 und 4 vor dem Seegestade spielen in türkisfarbener Lichtstimmung. Jenseits aller Einwände rangiert die Qualität der überraschend jungen Tänzer. Die weißen Akte sind kaum kultivierter, perfekter, präziser denkbar und leben ebenso von einer seltenen Einheitlichkeit in Stil und Armkultur wie auch die solistischen Parts. Andrey Uvarov, empfindsam, nobel, von leise landendem Sprung, tanzte mit der kindlich filigranen Yekaterina Krysanova, die für eine erkrankte Startänzerin einsprang und besonders als funkelnd furiose Odile beeindruckte. Anna Antonicheva, Partnerin des frisch burschikosen Artem Shpilevski, füllte tags darauf die Rolle der Odette deutlich mehr aus. Dmitry Belogolovtsev als spannungsvoller Geist des Bösen, Yan Godovsky respektive Viatscheslav Lopatin als technisch fulminante Narren, Siegfrieds zwei Freundinnen im Pas de trois, die vier kleinen, drei großen Schwäne wie auch die Männergruppe bestachen durch formidables Können. Mit wieviel Liebe und zupackender Dramatik unter Pavel Sorokins Dirigat die Partitur erblühte, das setzte sich auch in Schostakowitschs dynamisch explosiver Musik zu „Der helle Bach“ fort.

Eine von Stalin initiierte Verleumdungskampagne in der Prawda besiegelte auf sieben Dezennien das Schicksal von Schostakowitschs 1935 zunächst bejubeltem dritten Ballett. Ratmansky, frei von den ideologischen Zwängen seines Vorläufers, inszenierte 2003 zum 100. Geburtstag des Komponisten das ursprüngliche Libretto um Liebesverwicklungen zwischen Bauern der Kolchose „Heller Bach“ und hauptstädtischen Gastkünstlern neu und landete damit auch im Ausland einen Wurf. Augenzwinkernd leichtfüßig, mit überbordend komödiantischem Gespür, dabei hoch musikalisch, teils rasend flink und technisch knifflig belebt er kraftvoll urrussische Charaktere, bedient das Spieltalent seiner Tänzerriege, setzt Folklore ein, persifliert den einstigen Kolchos-Kult, parodiert nebenbei „Giselle“ und lässt Boris Messerer in seinem zauberhaft ländlichen Bühnenbild Brunnenfiguren der Allunionsausstellung zitieren.

Schostakowitschs vor Lebensfreude berstendes Potpourri aus Walzer, Marsch, Galopp, Tango, Charleston hat in Ratmansky einen choreografischen Meister, in dessen Tänzern ideale Interpreten gefunden. In einem köstlichen Gute-Laune-Ballett mit Verkleidung en travesti und reichlich Verwechslungen von Shakespearescher Lust am Schabernack brillierten Starsolisten des Ensembles ebenso wie Nachwuchskoryphäen. Svetlana Lunkina und Maria Alexandrova gestalten die beiden weiblichen Hauptparts mit der Überlegenheit ihrer Erfahrung, Yekaterina Krysanova und Moskaus neue Wunderballerina Natalia Osipova bringen in denselben Rollen Temperament und stupende Technik ins Rennen. Von den anderen exzellenten Tänzerschauspielern, ob als Ballerino, Akkordeonist, Traktorist, Kolchosaktivist, Milchmädchen, Feldarbeiter oder Kosake, gelang Anastasia Vinokur als liebestoller Datschenbewohnerin ein Kabinettstück an durchdachter Rollenzeichnung. Und Choreograf Ratmansky darf mit dem ehrengeretteten „Hellen Bach“ ein weiteres Signaturstück seiner Ära verbuchen.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern