Einbruch in den Tempel

Das Badische Staatsballett wagt sich an Petipas „La Bayadère“

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Karlsruhe, 19/05/2007

Mutig, ja geradezu tollkühn, diese Karlsruher! Wagen sich in der vierten Spielzeit der Ballettdirektion von Birgit Keil nach „Don Quixote“, „Giselle“ und „Coppélia“ an den neben „Dornröschen“ anspruchsvollsten aller Klassiker – „La Bayadère“ von Marius Petipa und Ludwig Minkus aus dem Jahr 1877. Und das ganz ohne Entwicklungshilfe aus St. Petersburg oder Moskau, sondern als eigen gestemmter Kraftakt! Choreografie: Terence Kohler, Bühne und Kostüme: Jordi Roig heißt es auf dem Besetzungszettel. Und die Inszenierung? Fehlanzeige! Der Dirigent: dito. Kein Orchester im Graben. Dafür auf Seite 43 des Programmheftes als Musikangabe eine Studioeinspielung des English Chamber Orchestra, DECCA 436917-2. Und das als ob es keine Badische Staatskapelle gäbe!

Vorsichtshalber haben sie den Titel geändert: „Die Tempeltänzerin“ (nach Petipa). Und auch die im Anonymen belassene Dramaturgie. Die beginnt mit dem Sturz eines Götteridols, mit abgeschlagenem Kopf à la Sadam Hussein. Der (der Kopf!) macht sich indessen selbständig, träumt sich als Goldenes Idol zurück in die Vergangenheit und wirkt als eine Art dramaturgischer Strippenzieher, der immer dann auftaucht, wenn man es am wenigstens erwartet (eine Bombenrolle für Yuhao Guo, der eigentlich im Original nur einen einzigen Auftritt im Schlussakt hat, hier indessen wie ein indischer Olympionike durch die Akte sprintet). Kolossal aufgewertet auch die Rolle der Gamsatti, macht- und liebeslüsterne emanzipatorische Tochter des Radschas, die der Tempeltänzerin Nikiya mittels eines Doping-Schals ihren Lover abspenstig macht.

Anais Chalendard stattet sie mit dem Charme einer indischen Suffragette der Jahrhundertwende aus, eine Art Vorgängerin von Alice Schwarzer, die nicht davor zurückschreckt, aus Frustration das Objekt ihrer Begierde umzubringen. Der solcherart erdolchte Solor ist allerdings auch ein äußerst attraktiver, sportgestählter, englischer Kolonialoffizier, der der Bruder von Prinz Harry sein könnte, alias Flavio Salamanka, der seine tänzerische Ausbildung offenbar auf der Royal Dancers Academy von Sandhurst absolviert hat. Nikiya, als Protagonistin die hinschmelzend zarte Paloma Souza, holt ihn dann aber am Schluss doch noch heim in ihr himmlisches Paradies – eine jener lieblichen, wunderbar reinen Jungfrauen, wie sie den Selbstmordattentätern verheißen sind. In Karlsruhe hat sie immerhin achtzehn Gefährtinnen – keine bloßen Schatten, als die sie in der paradiesischen Personalakte aufgelistet sind (und sonst meist als abstrakte Wesen im Tutu herumgeistern), sondern appetitliche Badenserinnen aus Fleisch und Tänzerinnenblut mit dem Diplom der Mannheimer Akademie des Tanzes.

So verleiht die Karlsruher Produktion der exotischen Bollywood-Legende in der Ausstattung von Jordi Roig einen leichten englischen Touch, den auch Kohler in seiner Choreografie übernimmt, wenn er Solor mit seinen uniformierten Kameraden zur Einführung ein Gelände-Training exerzieren lässt. So beginnt der lange erste Akt äußerst vielversprechend. Problematisch wird es dann allerdings im zweiten Akt mit dem Auftritt der „Schatten“, den Solor in seinem Haschisch-Traum imaginiert. Der ist das choreografische Herzstück des ganzen Balletts, den Kohler total umfunktioniert hat, indem er die „Schatten“ durch einen glitzernden Pailletten-Vorgang auftreten lässt, mit dem Rücken zum Publikum, ohne dass wir sie je direkt frontal zu sehen bekommen – als sei‘s eine choreografische Studie à la Marco Goecke.

Da bricht die (Nicht-)Inszenierung auseinander, auch mit dem Erscheinen von Gamsatti, die hier nichts verloren hat. Und der dritte Akt spielt dann im schwarzen Nirgendwo, wo die Mittel für ein Bühnenbild offenbar nicht mehr gereicht haben, bietet hier allerdings noch einen hochdramatischen Pas de trois der drei Hauptbeteiligten. Wie denn überhaupt die Anverwandlung der choreografischen Zitate von Petipa und ihre Verschmelzung mit den Kohlerschen Eigenarrangements erneut die phantasievolle, immer musikalisch feinhörige Professionalität Kohlers bezeugt. Der man indessen eine ebenso professionelle dramaturgische Begleitung wünscht anstelle des halb durchgegorenen Ideensalats, der uns diesmal in Karlsruhe serviert wurde.

Das allerdings in der piekfeinen Art, die den Tänzern in der Birgit-Keil-Schule der guten tänzerischen Manieren anerzogen und im täglichen Training perfektioniert wird. So kann man die vom Publikum enthusiastisch aufgenommene Produktion der Petipa-Kohlerschen „Tempeltänzerin“ auch als eine Gabe zum hundertsten Geburtstag von Lincoln Kirstein sehen, dem Gründer der School of American Ballet, der nicht müde wurde, sich zum Ballett als Demonstration dessen „wie man sich benimmt“ zu bekennen (siehe das kj vom 3. Mai).

 

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