Wo die Musik und der Tanz eloquent genug sind, um ohne Worte auszukommen
Vier Uraufführungen von Thiago Bordin, Terence Kohler, Philip Taylor und Davide Bombana
Drei Ballette von Michail Fokine, Philip Taylor und Terence Kohler
Ein Ballettabend der gemischten Gefühle! Zunächst große, positive Überraschung: Fokines „Les Sylphides“, einstudiert von Birgit Keil höchstpersönlich, Bühne und Kostüme; Vladimir Klos. Kein Dirigent, kein Orchester – dafür links im hochgefahrenen Orchesterraum ein Flügel, zu dem eine attraktive junge, pianistisch hoch sensibilisierte Dame schreitet: Irina Martuskevych – Irina ganz allein. Endlich einmal die originalen Pieçen, ohne die dicksämige Orchestersauce. Die Chopin-Verehrer wissen es zu schätzen (auch wenn sie unter Fokines Tempowillkür ein bisschen leiden). Karlsruher Sylphiden-Romantik, eher nüchtern – wie das Bundesverfassungsgericht, aber das Grundgesetz stimmt. Die Arme des Corps bedürfen noch etwas Nachschliffs, doch die cis-moll Valse, von Anaïs Chalendard und Alexandre Simoes wie ein elegisches Gedicht von Lamartine tanzdeklamiert, entfaltet schon seinen betörenden nächtlichen Duft.
Kein Orchester dann auch für die folgende Uraufführung von „Vivaldis Märchen“ von Philip Taylor – und das in einem Staatstheater, das sich sonst so viel auf seine Deutschen Händel-Solisten zugutehält. Und ebenfalls kein Orchester für Terence Kohlers „transcendence“ zum Violinkonzert von Philip Glass, sondern lediglich Kulissen-Sound aus dem Lautsprecher. Welch ein Armutszeugnis! Was für ein Märchen, das sich Münchens Gärtnerplatz-Mann da mit Hilfe seiner Ausstatterin Claudia Doderer zusammenfantasiert hat (Vivaldi würde Augen machen!): vier sexy Boys, die mit Walle-walle-Tüchern zunächst wie Fledermäuse über die Bühne flattern, dann hoch oben in der Zinnenburg die Köpfe und Arme von lauter Burgfräuleins mit lang herunterhängenden – ja was denn: Seilen, Zöpfen? Ich dachte sogleich an Melisande.
Später werden die Tücher dann zu Gondeln umfunktioniert, in denen die Damen über den Boden geschleift werden – während Barbara Blanche einen ihrer Spitzenschuhe verliert und auf nackter Sohle tanzt, bis ihr Stoimen Todorov als Kavalier beim Wiederhineinschlüpfen hilft: also doch nicht Melisande, sondern Aschenbrödel? Na ja, ist ja ein Märchen, das im Programmheft als „eine Reise auf dem Weg zur wahren Liebe“ beschrieben wird. Scheinen ganz schön strapaziös zu sein, diese Liebesexerzitien à la Karlsruhe! Sind aber sicher ein gutes Training für Kohlers „transcended“, das da, angeführt von Patricia Namba, Paloma Souza und Chalendard, Felipe Rocha und Salamanka über die Bühne hetzt – in imaginären, sich ständig verwandelnden Video-Räumen von Merten Lindorf. Die entfalten ihre ganz eigene Choreografie, mit Himmelstreppen, die die Tänzer rückwärts herabzuschreiten haben, nebst einer kopfständigen Figur, die am Schluss – eine Erlöser-Figur, wie in Tetleys „Sacre“? – in den Schnürboden entschwebt. Ist toll gemacht, von einer rastlosen Energie gespeist, mit fabelhaften Gimmicks bestückt, sieht totschick aus: Karlsruhes exakt getimte Hommage an den Komponisten zu dessen siebzigstem Geburtstag!
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