Zu dieser Münchner Hommage „100 Jahre Ballets Russes“ wird man von weither anreisen

Fokines „Shéhérazade“, Bronislawa Nijinskas „Les Biches“ und „Once upon an ever after“ von Terence Kohler

München, 09/12/2008

Kostüme, Räume und Tanzschritte wie antike Juwelen, eingefasst in rauschende Musiken – zu dieser Münchner Hommage „100 Jahre Ballets Russes“ wird man von weither anreisen. Nicht unriskant ist es ja, nie mit dem Prädikat „Klassiker“ ausgezeichnete Choreografien wiederzubeleben. Mit Michail Fokines „Shéhérazade“ (1910), Bronislawa Nijinskas „Les Biches“ (1924) und der Uraufführung „Once upon an ever after“ des Australiers Terence Kohler ist dem Staatsballett jetzt jedoch ein Abend geglückt, der den Aufbruch in die Ballettmoderne abwechslungsreich und farbig aufleuchten lässt.

Im Paris der 1910er Jahre war Ballett zur faden Amüsierkunst heruntergekommen. Und da bringt dann dieser Talentejäger, dieser geniale Impresario Serge Diaghilew, Produktionen wie Fokines „Shéhérazade“ heraus. Klar, dass die Pariser, gerade euphorisch dem jugendstiligen Trend zum Exotischen verfallen, aus dem Häuschen waren: Bunt gemusterte Turbane, Schleier, Röcke über Pumphosen, alles in warmen Rot- und Orangetönen, kontrastiert mit Kobaltblau. Und so sinnlich süffig – zu Rimski-Korsakows schmelzender Suite – sind auch die Tänze der verbotenen Leidenschaft zwischen der Lieblingsfrau des Königs und ihrem goldenen Sklaven und die getanzten Umarmungen des gesamten Harems. Der König kommt unverhofft zurück. Schon sausen die Schwerter seiner Leibwache, stürzen die Körper zu Boden. Und die schöne Zobéide – verführerisch-dramatisch getanzt von Lucia Lacarra – gibt sich den Dolch.

Tanzmuseum? Sicher. Aber nur auf der Bewusstwerdung seiner Geschichte entwickelt Kunst sich weiter. Nach Marius Petipa, dem großen Meister des klassischen Balletts des 19. Jahrhunderts, führte Fokine erste Neuerungen ein: „Shéhérazade“ ist kein symbolschwangeres Märchen mehr, Zobéide kein abgehobenes Schwanenwesen, sondern eine Frau, die sich sexuell auslebt. Erzählt wird stummfilmartig mit Körperausdruck, ohne die pantomimischen Handsymbole (auf den Ringfinger zeigen = „Ich bin verlobt“). Und dem orientalischen Ambiente logisch entsprechend ist die klassisch strenge Körperlinie aufgelöst in gebogene und gebrochene Haltungen aus persisch-indischer Tanzkultur.

Einen Schritt weiter in der Entwicklung ist Bronislawa Nijinska mit ihrem „Les Biches“ von 1924. Die Nijinksy-Schwester verschlankt die klassische Sprache in einem ersten Vorstoß zur Neoklassik. Was noch kein Qualitätsbeweis ist. Aber diese Partygesellschaft von „Biches“, von leichtlebigen jungen Frauen, an einem sonnigen Nachmittag irgendwo an der Côte d'Azur, ist aus einem künstlerischen Guss. Die hübschen Koketten – hinreißend Lisa-Maree Cullum mit langer Zigarettenspitze –, die scharf konturierten Macho-Bewegungen von drei hereingeschneiten strammen Strandknaben, die flapsig zukomponierte Musik von Francis Poulenc, das Pastellgrau, -blau und -rosé für Bühne und Kostüme der Malerin Marie Laurencin, das alles zusammen gibt diesem Stück eine wunderbare humorvoll-bildhafte Qualität.

Dieser Diaghilew-Tradition enger Zusammenarbeit mit anderen Künstlern fühlt sich auch Terence Kohler verpflichtet. Zusammen mit der Künstlerin rosalie hat er sich – aus heutigem Blickwinkel – ein Pasticcio aus den 19. Jahrhundert-Klassikern „Giselle“, „Schwanensee“ und „Dornröschen“ ausgedacht. Und wir sehen menschliche Gefühle statt pathetischem Liebesschwur, Ironie (die Feen, die sich in Revuegirls verwandeln) statt Tragik – und statt traditioneller Dornröschenhecke rosalies Drahtsonnen, Metall-Blumen und Rosen-Tor. Bockige Technik hielt es in der Premiere verschlossen und vermasselte die Wachküss-Szene. Kohlers „Es war einmal in alle Ewigkeit“ ist noch kein großer Wurf. Aber zu Tschaikowskys „Pathétique“ hat er mit Esprit und blendendem Neoklassik-Handwerk choreografiert. Den Abend mit einem engagierten Valery Ovsianikov am Pult und einem gut aufgelegten Staatsballett kann man nur empfehlen.
 

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