Und wenn sie nicht gestorben wären …

Das Bayerische Staatsballett feiert „100 Jahre Ballets Russes“

oe
München, 11/12/2008

Zum hundertsten Male jährt sich im nächsten Mai der Tag der Pariser Premiere von Diaghilews Ballets Russes, die dem Ballett das Tor zum 20. Jahrhundert aufgestoßen haben. Inzwischen bilden auch unsere großen Opernballette so etwas wie ein Geschichtsbewusstsein aus und bereiten sich intensiv auf das Jubiläum vor. Den Anfang haben jetzt Hamburg und München gemacht. In der Hansestadt präsentierte John Neumeier seine heutige Sicht auf die Diaghilew-Klassiker „Daphnis und Chloe“, „Nachmittag eines Fauns“ und „Sacre du printemps“. In der Isarmetropole beschritt das Bayerische Staatsballett einen anderen Weg und bündelte im Nationaltheater unter dem Titel „100 Jahre Ballets Russes“ zwei Diaghilew-Preziosen, Michail Fokines „Shéhérazade“ und Bronislawa Nijinskas „Les Biches“ mit einer Uraufführung – sehr im Sinne des immer für Neues aufgeschlossenen Diaghilews: Terence Kohlers „Once Upon An Ever After“ – was sich frei übersetzt liest: „Es war einmal und wenn sie nicht gestorben wären …“.

Zweifellos gehört der, inklusive zweier Pausen, knapp zweihundert Minuten lange Dreiteiler zu den Top-Events der Spielzeit, ein eindrucksvoller Leistungsbeweis der von Ivan Liška geleiteten Kompanie auf höchster internationaler Ebene: die in London, Paris und New York ansässigen Ensembles würden sich glücklich schätzen, ihren Fans ein derartig hochkarätiges Programm bieten zu können. Er bestätigt Liškas zielstrebige Aufbauarbeit mit einer künstlerischen Qualität, die in der Vergangenheit mancherlei Einbuße – zumal von den für Uraufführungen engagierten Gästen – zu leiden hatte.

Hundert Jahre nach seiner Premiere an der Pariser Opéra erweist sich Fokines und Rimsky-Korsakows „Shéhérazade“ als das Problemstück des Dreiteilers. In seiner schwülstigen orientalischen Opulenz reflektiert das Spektakel aus „Tausendundeinenacht“ das satte Vorweltkriegsklima als eine uns doch recht fern gerückte Ära. Gewiss, da gibt es viel zu bewundern: Rimsky-Korsakows unendlichen Melodienstrom, Léon Baksts verschwenderische, farblich betörend schöne Ausstattung, Fokines penibel-pathetische Nacherzählung der Story, Tänze in Hülle und Fülle, das Ganze aufgeladen mit einer plakativen Erotik, aber das lässt doch alles ziemlich kalt, ist von der Fokine-Enkelin Isabelle buchstabengetreu nach dem Original auf die Bühne des Nationaltheaters gewuchtet worden und wird von den Bayern mit bewundernswerter Selbstentäußerung zur Schau gestellt: eine leicht angestaubte Museumspiece. Doch ist Lucia Lacarra mit all ihren Vorzügen in der Titelrolle keine neue Ida Rubinstein und Lukáš Slavický als Goldener Sklave eher ein moderner Spartakiade als der pure Sinnlichkeit aus allen Poren verströmende Nijinsky in der Uraufführung.

Die erotisch aufregendste „Shéhérazade“-Aufführung, an die ich mich erinnere, hatte Gertrud Steinweg in den fünfziger Jahren an der Komischen Oper in Ostberlin inszeniert und choreografiert. Außerordentlich beglückend dagegen die Wiederbegegnung mit Nijinskas „Les Biches“, Jahrgang 1924 (und damit vier Jahre VOR Balanchines Regierungserklärung des Neoklassizismus in „Apollon musagète“). Von Francis Poulenc leicht angejazzt, von Marie Laurencin in zart-duftige Pastelltöne gekleidet, entfaltet die leicht frivole Salonkomödie nach wie vor ihren augenzwinkernden Côte-d‘Azur-Charme, dessen Autor Scott W. Fitzgerald heißen könnte. Ein Mädchenpensionat, mit lauter jungen Damen, die sich wie Prä-Lolitas benehmen, die Lady des Hauses, nebst einer hermaphroditischen Fille, dazu drei muskelprotzende Boys vom Strand – und fertig ist die Geschichte, die keine ist, aber von amourösem Techtelmechtel überquillt.

Diana Curry hat das einstudiert, und die Münchner, angeführt von der sophisticated-distinguierten Lisa-Maree Cullum, mit Séverine Ferrolier in der aparten Pagen-Rolle und den drei Gigolos vom Strand, Cyril Pierre, Javier Amo Gonzalez und Maxim Chashchegorov in ihren knappen Badehosen, tanzen das Party-Ballett so elegant-anmacherisch, dass jeder Zuschauer seine eigene Geschichte daraus ablesen wird. Und sie tanzen diese rein neoklassizistische Choreografie auf Hochglanz poliert mit Finalposen, die wie Ausrufezeichen im Raum stehen. Ein absoluter Solitär im Repertoire nicht nur der Münchner.

Und dann der große Überraschungs-Coup: Terence Kohlers „Once Upon an Ever After“ zu Tschaikowskys Symphonie pathétique (wie auch die beiden anderen Partituren tänzerisch ausgesprochen beschwingt dargeboten vom Bayerischen Staatsorchester unter der Leitung von Valery Ovsianikov, mit Markus Wolf als Solist der süß die Sinne umschmeichelnden Violin-Passagen bei Rimsky-Korsakow). Kohler ist der inzwischen 24-jährige australische Jungchoreograf, den Birgit Keil entdeckt und in Mannheim und Karlsruhe herausgestellt hat, und der hier nun seine Meisterarbeit vorgelegt hat – zusammen mit Rosalie, die für Raum, Kostüme und Lichtinstallation zuständig ist. Sonst eher zu exzessiven Übertreibungen neigend, hat sie sich hier eher zurückgehalten – was dem Ganzen unbedingt zugutegekommen ist.

Zustande gekommen ist auf diese Weise in tänzerisches Totaltheater – Diaghilew wäre begeistert gewesen. Was Kohler hier bietet, ist eine 45-minütige Tour d'horizon durch die Ballettgeschichte von „Giselle“ über „Schwanensee“ und „Dornröschen“ bis zu Anna Pawlowas „Sterbendem Schwan“ – und zwar aus der Perspektive des „Ever After“, also aus dem Blickwinkel, wie es mit den Protagonisten hätte weitergehen können, wenn ihnen die Librettisten nicht einen so frühen Tod verordnet hätten. Das ist ebenso originell wie einfallsreich und dabei geradezu verblüffend musikstimmig von Kohler choreografiert worden. Und zwar für die ganze große Kompanie, die hier voll zum Einsatz kommt. Und so sind sie alle daran beteiligt, das ganze Münchner Ensemble, von Lucia Lacarra (sozusagen als Super-Schwan), Lisa-Maree Cullum, Roberta Fernandes, Séverine Ferrolier bis zu Elena Karpuhina, von Alen Bottaini und Vincent Loermans, Nour El Desouki bis zu Tigran Mikayelyan und Marlon Dino, dazu das ganze Corps – und es ist eine Lust zu sehen, wie sie sich in ihre Rollen und ihr Leben nach dem üblichen Ballett-Tod gestürzt haben.

Da hat Birgit Keil, die Kohler als erste in Mannheim und Karlsruhe herausgestellt hat, vermutlich den Choreografen entdeckt, der die seit Uwe Scholzens Tod vakante Position eines genuin klassischen Choreografen auszufüllen imstande ist. Wäre ich Ballettchef – wovor ein gütiges Schicksal die Welt bewahren möge –, ich würde Terence Kohler auf der Stelle als Hauschoreograf verpflichten!

 

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