Form, Inhalt und Faszination

„Die Welt der Ballets Russes“ bei der Terpsichore-Gala des Bayerischen Staatsballetts

München, 09/05/2009

Manche Ballette geistern als legendäre Namen durch die Literatur, nur gesehen hat sie nie einer. „Parade“ ist so ein Fall, der Name des Choreografen Léonide Massine verblasst dabei fast gegen die Berühmtheit seiner kreativen Mitstreiter Jean Cocteau, Pablo Picasso und Eric Satie, deren Beiträge an der Gaukler-Story dann tatsächlich wichtiger erscheinen als der eher mimisch orientierte Tanz. Wie mag das Publikum 1917 auf diese knallbunte, kubistisch-schicke Objektkunst reagiert haben, auf die jazzigen Anklänge, das vorlaute Pfeifen und Schnarren der Musik, auf die freche Petite fille américaine und die grell überzogenen Manager-Figurinen?

Obwohl die Mitglieder der Donlon Dance Company aus Saarbrücken am Rande ihrer Möglichkeiten tanzten, war die Ausgrabung sicher das spektakulärste Fundstück der achten Terpsichore-Gala beim Bayerischen Staatsballett. Wie bei vielen großen Ballettkompanien der Welt steht dort derzeit „Die Welt der Ballets Russes“ im Mittelpunkt der Spielzeit, zum hundertjährigen Jubiläum der berühmten Kompanie Sergej Diaghilews war ihr auch die Gala zur Ballettfestwoche gewidmet: ihren Entdeckungen und inneren Gegensätzen, den berauschenden Bildern und der reichen Musik, vor allem aber ihrem nachhaltigen Fortwirken bis in unser heutiges Repertoire. Für die St. Petersburger Petipa-Tradition, die Diaghilew mit in den Westen brachte und aus der seine Choreografen und Tänzer allesamt herstammten, standen das Rosenadagio aus „Dornröschen“ mit einer eher stabilen als mädchenhaften Lisa-Maree Cullum und der Schwarze-Schwan-Pas-de-deux mit den ukrainischen ABT-Stars Irina Dvorovenko und Maxim Beloserkovsky. Ihre reichen russischen Talente sind sich nach so vielen Jahren in New York augenscheinlich in amerikanischer Effektivität aufgegangen, aber harte Arme hin und fehlende Raffinesse her – so rasend schnelle Fouettés haben wir schon lange nicht mehr gesehen. Wesentlich stilvoller wurden die beiden Werke von Diaghilews erstem Chefchoreografen Michail Fokine getanzt, obwohl auch Mara Galeazzi vom Londoner Royal Ballet ein wenig das Flirrende, Überirdische des Feuervogels vermissen ließ. Vielleicht lag es einfach daran, dass sie den Pas de deux mit ihrem zuverlässigen Partner Thiago Soares als Zarewitsch auf nackter Bühne tanzte, ohne den märchenhaften Rahmen der Handlung und das russisch-prachtvolle Bühnenbild.

Umso schöner erstrahlte Strawinskys exotische, reich instrumentierte Musik, sein erstes großes Bühnenwerk und Beginn eines beispiellosen Oeuvres als Ballettkomponist. Myron Romanul und das Bayerische Staatsorchester nahmen sich der wunderbaren Musik der Ballets Russes hingebungsvoll an. Auch der Geist der Rose hatte kein Fenster für seinen spektakulären Auftritt – der bewährte Igor Kolb vom Mariinsky-Ballett sprang hoch und landete weich, umflatterte das schlafende Mädchen stilrein und ohne zu viel feminines Pathos. Die große Faszination allerdings, die Waslaw Nijinsky in dieser Rolle gehabt haben soll, sie blieb uns ein Rätsel – bis zum Blick ins Programmheft auf dieses entrückte, verspielte Lachen des legendären Tänzers auf einem alten Foto als Spectre. Bei Igor Kolb sahen wir nur die perfekte äußere Form und keinen Inhalt.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Faun, dem in dreifacher Ausfertigung vertretenen Hauptthema des Abends. Die Gala bot die einzigartige Möglichkeit, drei verschiedene Choreografen zu Claude Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“ zu sehen, zunächst die Originalversion von Waslaw Nijinsky in der Rekonstruktion durch Claudia Jeschke und Ann Hutchinson Guest. Wo ist die Faszination? Wo ist der Tanz? Immer noch ist es schwer zu verstehen, warum dieses belebte griechische Relief ein Dreh- und Angelpunkt der Tanzgeschichte sein soll, wie es einen Skandal verursachte, warum Nijinsky der Gott des Tanzes war. Wir dürfen sicher sein, dass die Einstudierung mit Tigran Mikayelyan als Faun in ihrer skulpturalen Qualität den Bewegungen der Originalchoreografie so nahe wie nur möglich kommt, aber wir dürfen ebenfalls sicher sein, dass das nicht alles sein kann. Vielleicht fehlte der Interpretation die Freiheit, eine eigene innere Spannung zu finden, vielleicht waren die Tänzer zu verkrampft um korrekte Haltung statt um persönliche Konzentration bemüht. Aber noch heute, wo wir im modernen Tanz alles gesehen haben, erschreckt uns die massive Antihaltung des legendären Nijinsky in seinem ersten eigenen Werk – sein „Faun“ ist so völlig anders als alles, was man ihm bis dahin auf den Leib choreografiert hatte, das perfekte Beispiel dafür, wie unmittelbar Tradition und der vollkommene Bruch mit ihr in den Ballets Russes nebeneinanderstehen. Wenn Ivan Liška für seinen „100 Jahre Ballets Russes“-Abend nach „Shéhérazade“ und „Les Biches“ die damalige Ästhetik mit dem jungen Terence Kohler ins Heute fortsetzt (ein Ausschnitt aus dessen „Once upon an ever after“ mit dem nun wieder formidablen Mikayelyan beendete die Gala), dann hat er den leichteren Weg der Tradition, nicht den der Auseinandersetzung mit ihr gewählt. Jerome Robbins behält in „Afternoon of a Faun“ die Themen Nijinskys bei – die Ichbezogenheit des Fauns, die angedeutete Liebesbeziehung. Er verschiebt die horizontale Linie, das Grundmuster von Nijinkys Choreografie, nach vorne und macht daraus den Spiegel im Ballettsaal, an dessen Stelle wir, das Publikum, sitzen. Mit der Zartheit des Impressionisten Debussy verinnerlichten Polina Semionova und Vladimir Malakhov vom Berliner Staatsballett Robbins‘ lyrischen Minimalismus, tupften die sparsamen Bewegungen in den Raum und spielten das verzauberte Spiel der Blicke. John Neumeiers „Faun“-Version aus dem Jahr 1996 spielt an einem griechisch-hellen Sommertag, vielleicht wirkt sie deshalb ein wenig schwül. Er macht eine Menage à trois aus der Geschichte, bei der ein Dionysos/Faun auf einen Künstler und dessen imaginäre Muse trifft. Otto Bubeníček und Edvin Revazov bemühten sich um die zurückhaltende Hélène Bouchet und ließen uns im Vagen darüber, welcher der beiden Männer nun der Liebende, der Kuppler oder der Betrachter ist.

Das Ende von Diaghilews Ära markierte in dieser Gala George Balanchines „Apollo“, als „Apollon musagète“ 1928 in Paris uraufgeführt, eine der letzten Kreationen der Ballets Russes und Vorbote des Umschwungs von den rauschhaften Farborgien und surrealen Experimenten in die abstrakte Neoklassik amerikanischer Schule. Vier exzellente junge Mariinsky-Tänzer stellten Yuri Fateyev, dem neuen Direktor der berühmten St. Petersburger Kompanie, das allerbeste Zeugnis aus: Jana Selina, Anastasia Nikitina, Ekaterina Osmolkina und vor allem Alexander Sergeyev in der Titelrolle meißelten die Plastizität der Choreografie in aller Klarheit heraus und tanzten dennoch einfach, direkt und natürlich. Eine nahezu exemplarische Aufführung, schade nur, dass in der heutigen Mariinsky-Version der Prolog und der Aufstieg zum Parnass am Schluss fehlen. Eine obere Stufe im Tempel der Ballettgalas aber ist auch diese Terpsichore-Gala sicher.

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