Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Zwanzig Minuten Applaus, Blumenregen, Bravostürme und „Happy Birthday to you“ - das Stuttgarter Ballett und sein Publikum zelebrierten mal wieder eine ihrer berühmten Galavorstellungen. Mit einer sternenbesetzten „Romeo und Julia“-Aufführung wurde der siebzigste Geburtstag der ehemaligen Starballerina und Ballettdirektorin Marcia Haydée gefeiert. Nach der verletzungsbedingten Absage Vladimir Malakhovs und infolgedessen auch seiner Partnerin Lucia Lacarra, die die Rolle nie mit einem der Stuttgarter Tänzer einstudiert hatte, gab es eine (insgeheim viel passendere) Stuttgarter Lösung: Julia wurde von Sue Jin Kang getanzt, der einzigen Stuttgarter Ballerina, die Haydées dramatischer Größe immerhin nahekommt, Romeo war aktweise unter Reid Andersons exquisiter Solistenriege aufgeteilt. Nach den zarten Berührungen des ersten Kennenlernens war Jason Reilly ein stürmischer, liebesbeseelter Romeo im Balkon-Pas-de-deux (und ein perfekter Partner), im zweiten Akt stürzte sich Filip Barankiewicz bei aller verliebten Abwesenheit Romeos in herrliche Drehungen, bei Friedemann Vogel brach im dritten Akt immer wieder eine große, verzweifelte Leidenschaft durch die nuancenreiche Feinheit des Danseur Noble. Was für ein Trio an ersten Solisten!!
Zusammen mit Alexander Zaitsev als (Teilzeit-)Mercutio und Eric Gauthier als Benvolio demonstrierten sie erneut die tänzerische Topqualität der Stuttgarter Herren. Um die „Mutter der Kompanie“ zu ehren, hatten sich jetzige und ehemalige Mitglieder des Stuttgarter Balletts in neue Rollen gestürzt und zum Teil extra noch eine Diät gemacht, wie Ballettdirektor Reid Anderson in seiner launigen Rede verriet. Noch die winzigsten Rollen waren prominent besetzt: Hauschoreograf Christian Spuck schritt als Diener dem Herzog von Verona voran, die ehemalige Solistin Marion Jäger war eine stolze Lady Montague. Drei der Rückkehrer mussten wirklich tanzen: Tamas Detrich, inzwischen Ballettmeister und der Stellvertreter Andersons, debütierte nach Ende seiner Tänzerkarriere noch als Tybalt, Ex-Mercutio Krzysztof Nowogrodzki springt auch Jahre nach seinem Karriereende noch ganz erstaunliche Double Tours und starb mit der Shakespeareschen Weisheit des Narren, zur der heute kaum mehr ein Stuttgarter Mercutio findet. Als Graf Paris verehrte der Leipziger Ballettchef Paul Chalmer seine Braut mit genau der erhabenen, distanzierten Schönheit, die Cranko dem Part eingeschrieben hat.
Der Rest der Gäste hob den Altersdurchschnitt auf der Bühne ganz entschieden und verlieh all den Schreit- und Charakterrollen eine neue Tiefe: Marcis Lesins war der herrische Herzog von Verona, dessen machtlose Wut den Hass der beiden Familien noch verdeutlichte, Egon Madsen verteidigte als Graf Capulet die Ehre seines Hauses und Hamburgs Ballettdirektor John Neumeier durchdrang die kleine Rolle des Pater Lorenzo mit solch religiöser Inbrunst, mit so ruhiger Zuversicht, wie sie vielleicht nur jemand hineinlegen kann, der von John Cranko gelernt hat, auch Nebenpersonen mit sparsamsten Andeutungen zu ausgereiften Charakteren zu machen. Absolut entzückend und ein Meisterwerk an liebevoller, jungfräulich-errötender Charakterkomik: die Amme der knapp achtzigjährigen Ballettmeisterin Georgette Tsinguiridis - warum kann sie das nicht immer machen?
Im Mittelpunkt der glanzvollen Gala (im Publikum saßen neben zahlreichen ehemaligen Stuttgarter Tänzern u.a. Manuel Legris, Ivan Liska, Steffi Scherzer und Oliver Matz) stand natürlich die Jubilarin: neben ihrem großen tragischen Auftritt über Tybalts Leiche fand Marcia Haydée auch all die kleinen Nuancen in der Rolle von Lady Capulet - die flüchtige Erinnerung an ihre Jugend, wenn sie Julia das Ballkleid bringt, das unterdrückte Erbarmen mit der flehenden Tochter im dritten Akt. Mit der gewohnten Bescheidenheit (eine Diva war sie nie) schob sie beim Schlussapplaus immer wieder andere Leute ins Rampenlicht und brachte vor allem ihren langjährigen Partner Richard Cragun mit auf die Bühne, von schwerer Krankheit gezeichnet und doch strahlend glücklich über den Jubel des Publikums. Ihm hatte sie die Gala gewidmet.
Einen Abend lang demonstrierten so drei Generationen von Ehemaligen und Jetzigen, von Abgewanderten und Zurückgekehrten die vielleicht größte Stärke dieser Stuttgarter Ballettkompanie: ihre Kontinuität über Jahrzehnte hinweg, felsenfest ruhend auf der Liebe zu John Cranko. Und welche andere Kompanie hat Zuschauer, die ihre Tänzer von ihren allerersten Auftritten bis zum 70. Geburtstag mit Sträußen und Blumenregen begleiten? Einzig das Stuttgarter Staatsorchester ließ sich weder von den exorbitanten Eintrittspreisen noch von der Feierstimmung erweichen und nudelte Prokofjew mit der gewohnten Verachtung für Ballettmusik herunter. Auch daran hat sich in Jahrzehnten nichts geändert.
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