Sind wir Osteuropäer dazu verdammt, immer „hinterher“ zu sein?
Ein Gespräch mit dem bosnischen Performancekünstler Sasa Asentic
Das Faszinierende an einem Großfestival wie Tanz im August ist nicht nur die Fülle unterschiedlicher künstlerischer Ansätze, sondern auch das Spiel von Analogien, wechselseitigen Kommentaren und Kontrasten, das in den zwei Festspielwochen zwischen den gezeigten Stücken entsteht. So ergibt sich bereits nach drei Spieltagen ein interessanter Dialog zwischen den Großproduktionen von Anne Teresa de Keersmaeker und Edouard Lock und den beiden „kleinen” Stücken, die am Samstag und Sonntag im Podewilschen Palais zu sehen waren. Während Lock und de Keersmaeker, beide gefeierte Großkünstler um die 50, bildmächtig und ihrer künstlerischen Mittel gewiss über das Vergehen von Zeit und den Umgang mit Geschichtlichkeit reflektieren, haben Diego Gil und Sasa Asentic, beide um die 30, den Blick fest auf die Gegenwart gerichtet – und auf die Bedingungen unter denen Tanz heute rezipiert wird.
Der in Serbien lebende Bosnier Asentic hat sich für das Format der Lecture Performance entschieden, nicht nur, weil er, wie er selbstironisch bemerkt, „gar nicht in der Lage wäre, ein Tanzstück zu produzieren”, sondern vor allem, um Fragen aufzuwerfen, die die Funktionsweisen und Codes des internationalen Tanzbetriebes betreffen. In „My private Biopolitics” spielt der Performer mit Zitaten westeuropäischer Vorbilder wie Jérome Bel und Xavier Le Roy und stellt sie den Klischees des „Exotischen”, „Ungeschickten” und „Altmodischen” gegenüber, mit denen sich ein osteuropäischer Künstler herumzuschlagen hat, wenn er auf dem internationalen Markt bestehen will.
Auf einer kleinen Probebühne präsentiert er sich dem Publikum inmitten des Materials, aus dem er sein Stück entwickelt hat. Mit lakonischem Augenzwinkern liest er von einem Zettel die Stationen ab, die er durchlaufen musste, um an diesem Abend nach Berlin eingeladen zu werden. Der übliche Ablauf des Videoverschickens, die Teilnahme an internationalen Workshops, die Begegnung mit der einflussreichen westeuropäischen Kuratorin, die ihn zu einer Residenz nach Paris einlädt und schließlich Empfehlungen an andere Festivals ausspricht, werden so zu Performances des Networking, die das eigentliche künstlerische Produkt in den Hintergrund treten lassen.
Kurz bevor die Reflexionen über Ausschluss- und Formatpolitik zu ermüden beginnen, bekommt der Auftritt durch einen klugen Schachzug neuen Drive. Asentic teilt dem Publikum mit, dass er sich mit der gerade entstehenden Produktion für das Londoner Aerowaves-Programm bewerben will, einer Promotionplattform für junge europäische Choreografen. Flugs zieht er sich eine hippe Trainingjacke über, bittet einen Zuschauer, ihn für das Bewerbungsvideo zu filmen und jagt seine Manuskripte durch den Büroschredder, um den beim Publikum gefragten „reinen Bewegungsfluss” nicht durch intellektuellen Ballast zu gefährden. Was dann folgt, ist eine grotesk übersteigerte Mischung aus Folkloreversatzstücken, Bewegungsforschung à la Thomas Lehmen und einer kurzen Musical-Einlage.
Natürlich wirkt ein solcher Ansatz naiv im Angesicht einer Vermarktungsmaschinerie, die auch das Kritische mühelos in ein Produkt verwandelt, doch hat es durchaus seine Berechtigung, wenn Sasa Asentic in der Mitte des Abends unvermittelt fragt: „Hat mich Tanz im August vielleicht eingeladen, weil ich als Außenseiter eine Kritik am System äußern kann, zu der ein etabliertes Festival von selbst nicht mehr fähig ist?”
Der Beginn von Diego Gils „Creating Sense”, das sofort im Anschluss auf der großen Bühne zu sehen ist, wirkt auf den ersten Blick wie die Art von zeitgenössischem Tanz die Asentic soeben parodiert hat. Zwei Frauen und ein Mann in schwarzer Trainingskleidung bewegen sich langsam vom Bühnenrand über das Plateau. Jeder der drei steigert sich nach und nach in einen Bewegungsstrudel hinein, der aus spiralförmigen Beckenbewegungen, ausladenden Armgesten und unvermittelten Sprüngen besteht. Obwohl sich die Akteure organisch umeinander und nebeneinander her bewegen, kommt es zu keiner direkten Kommunikation, und jeder bleibt in seinem individuellen Körperuniversum für sich. Zusehends wirkt das Geschehen wie ein Contact-Jam ohne Berührungen, der trotz der fast autistischen Isolation der Beteiligten eine seltsame Harmonie verströmt. Immer wieder ist in der Stille das laute Atmen der Tänzer zu hören.
Erst nach knapp zwanzig Minuten scheint sich das Rätsel um ihren geheimnisvollen Antrieb zu lösen. Laute Rockgitarren ertönen – ein Titel der in den vergangenen Jahren erbarmungslos gehypten New Yorker Band Yeah Yeah Yeahs – und das Trio gibt sich zunehmend entfesselt der Musik hin. Plötzlich hat die Szenerie einen Schauplatz – eine Disco irgendwo am Ende der Welt, wo sich drei vereinsamte Großstadtmenschen den Frust aus den Köpfen schütteln. Doch selbst als das Lied verebbt und die Tänzer schwer atmend wieder ihre Anfangspositionen einnehmen, bleibt ein Zweifel zurück. Ist es nicht zu einfach, die kurze Extase der Musik als Erklärungsfolie für das ganze Stück zu verwenden? Mit ganz einfachen Mitteln verweist Gil, der vor seiner choreografischen Laufbahn Philosophie studiert hat, auf unsere Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit und die Unfähigkeit, ein Geschehen einfach nur zu erleben. Ob Tanz wirklich einen entschlüsselbaren „Sinn” haben muss, oder ob Bewegung eben mehr sein kann als nur ein Zeichen für etwas anderes, ist somit die subtile Kernfrage von „Creating Sense”.
Im Vergleich zu den „alten Meistern” de Keersmaeker und Lock, die in den gerade gezeigten Arbeiten virtuose Antworten auf festgelegte Problemstellungen geben, beschränken sich Asentic und Gil auf das Stellen von Fragen, auf die es womöglich keine Antworten gibt. Man mag das naiv finden, unbequem oder ermüdend - sicher ist, dass es den zeitgenössischen Tanz ein Stück lebendiger macht.
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