Ein Altmeister und zwei junge
Antony Tudors „Lilac Garden“ zwischen neuen Stücken von Philipp Egli und Martin Schläpfer in Mainz
Nach langen Jahren mit selteneren Musikstücken aus Barock und Moderne nimmt sich der Mainzer Ballettdirektor Martin Schläpfer neuerdings die großen Brocken der Musikgeschichte vor - nach Beethovens Siebter jetzt Tschaikowskys letzte, sechste Sinfonie, die dem Ballett seinen Namen „Pathétique“ gibt. Dirigiert wurde sie wie auch die anderen beiden höchst unterschiedlichen Stücke des „Programms XXIII“ von der Mainzer Generalmusikdirektorin Catherine Rückwardt; eine so sensible, hochklassige Begleitung wird dem Tanz nicht an allen deutschen Staatstheatern zuteil, und ebensowenig eine solche musikalische Hochachtung.
Für das Eröffnungsstück hatte Schläpfer einen Landsmann eingeladen, den jungen Schweizer Choreografen Philipp Egli, Leiter der Tanzkompanie in St. Gallen. Sein „Space.Distance.Measure“ beginnt ohne Musik und Dekoration, die 18 Tänzer torkeln in Alltagskleidung über die Bühne. Das Ballett wirkt wie ein fröhliches Kinderspiel: da wird gehüpft und einander nachgerannt, die Tänzer verstecken sich in einem Wald aus dünnen weißen Lichtstangen und fallen immer wieder in synchrone Gruppenchoreografien, alles mit einfachen, gelösten Bewegungen, die näher am freien Tanz als am klassischen Ballett sind. Zwischen zwei Sonaten für Solo-Violine von Eugène Ysaÿe, die der exzellente Solist Ingolf Turban auf der Bühne spielt, erklingt die sphärische Streichermusik „Musica Celestis“ von Aaron Jay Kernis, zu der das Tanzidiom deutlich klassischer wird. Der sorglose, fast flüchtige Ton, den Egli hier vorgibt, ist eine schöne Ergänzung des ansonsten neoklassisch choreografierten und zunehmend ernster werdenden Abends.
Hans van Manens „Frank Bridge Variations“ entstanden vor zwei Jahren für Het Nationale Ballet in Amsterdam und erleben hier in Mainz ihre deutsche Erstaufführung. Zu Benjamin Brittens schon mehrfach vertanzten „Variations on a Theme of Frank Bridge“ bringt das Stück für fünf Paare viele bekannte Elemente des Van-Manen-Stils wie das gemeinsame Schreiten aus dem „Kleinen Requiem“ oder „Unisono“, die rasende Männervirtuosität von „Solo“ (brillant getanzt von Remus Sucheana und Bogdan Nicula) und natürlich immer wieder die typischen Van-Manen-Gesten wie die angriffslustig aus dem Ellbogen nach oben geworfenen Armen, dieses „Was willst du denn“.
Aber etwas ist ganz anders hier - die Stimmung wirkt gelassen, fast heiter, als hätte van Manen das kühle Misstrauen zwischen Mann und Frau, diese nervöse erotische Spannung zwischen den Geschlechtern, aus der fast alle seine Ballette ihre Kraft beziehen, gegen eine plötzliche Vertrautheit eingetauscht, die ihn selbst zu überraschen scheint. Fast staunend lächeln sich die Paare an, der letzte Pas de deux ist geprägt von emotionalen, zärtlichen Gesten.
Wie sehr Martin Schläpfer in der Nachfolge seines verehrten holländischen Vorbilds steht, zeigt auch die Wahl des Ausstatters: wie für die „Frank Bridge Variations“ schuf van Manens langjähriger Weggefährte Keso Dekker auch für die „Pathétique“ raffinierte Trikots in changierenden Farben und eine Bühne, die die Konzentration auf den reinen Tanz nie stört - bühnenhoch zittern ringsum leise schwarze Gummibänder.
Aber wie stark unterscheidet sich Schläpfers Stil doch trotz der gemeinsamen neoklassischen Basis von der klaren, apollinischen Altersweisheit van Manens. Seine „Pathétique“ wirkt wie der ungleich nachdenklichere, abstraktere Nachtrag zu den ganzen Tschaikowsky-Balletten der letzten Zeit, die sich ihrem Sujet plump biografisch näherten. Denn wie auch bei Bach, Schubert oder Lachenmann versteht Schläpfer den russischen Komponisten einzig und allein aus seiner Musik heraus, er missbraucht sie nicht als Illustration einer Lebensgeschichte. Erstaunlich ist dabei, wie sehr sich der ansonsten eher intellektuelle Choreograf auf das Pathos und die großen Gefühle einlässt - und wie sehr er sich doch treu bleibt mit seinen gebrochenen Gestalten, mit überraschenden und absurd erscheinenden Einfällen, mit seiner so sensibel in die Musik hineinhorchenden Choreografie und den oft gegen die Musik gesetzten Strukturen, mit dem dichten, verwirrenden Teppich aus Andeutungen.
Es gibt kein einziges direktes Zitat aus einem der drei großen Tschaikowsky-Ballette hier, aber alles erinnert ständig daran. Scharen sich die grotesken Schwäne um den Komponisten? Ist es ein einsamer Prinz, der da seine Manège zieht? Hält Rotbart den toten Prinzen im Arm oder Tschaikowsky seinen Geliebten? Vielleicht ist es nur ein einsamer Mensch, um den herum am Schluss all seine Gedanken, all seine Erinnerungen wie sterbende Schwäne zu Boden sinken. Als Meister der sublimen Assoziationen lässt Schläpfer es geschehen, dass sein Ballett mit der gleichen Kraft anrührt wie Tschaikowskys pathetische Musik, nur viel geheimnisvoller und rätselhafter.
Link: ballettmainz
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