Auf Balanchines großen Spuren
Martin Schläpfers „3“ und Christopher Bruces „Dance at the Crossroads“ beim Mainzer Ballett
Martin Schläpfers „Pezzi und Tänze“ als Krönung des neuen, XXVIII. Programms beim Mainzer Ballett
Nick Hobbs ist ein englischer Tänzer, der sich seit einigen Jahren, nicht unbegabt, an die Kunst der Choreografie herantastet. Am Samstagabend in Mainz konnte er einem leid tun. Denn seine neue Choreografie zu Dmitrij Schostakowitschs düsterem Streichquartett Nr. 15 mit dem japanischen Titel „mono no aware“, ein introvertiertes, verquastes, verkrampftes Stück, ist im neuen Programm des Mainzer Balletts zwischen zwei Mühlsteine geraten, die es mitleidlos zu Staub zermahlen.
Die zwei Mühlsteine heißen „24 Préludes“ und „Pezzi und Tänze“ und sind die neuen, an diesem Abend wie das Werk von Hobbs uraufgeführten Ballette des Hausherrn Martin Schläpfer: ein sehr gutes, meisterliches Stück das eine, ein veritabler Geniestreich das andere. Die „24 Préludes“ zur Musik von Frédéric Chopin, mit 52 Minuten Dauer ein Trumm von einem (handlungslosen) Ballett, führen die Auseinandersetzung mit der klassischen Tanztechnik, die Schläpfer in der vergangenen Saison mit Werken wie „3“ und „Reformationssymphonie“ begann, auf eine vergleichsweise leichtherzige, luzide Weise fort. Die Choreografie beschäftigt Schläpfers komplette Kompanie von zehn Frauen und zehn Männern und scheut weder vor virtuosen Soli noch vor großen Ensembleformationen zurück. Einige der von den Frauen dominierten Sequenzen in der Mitte des Werkes lesen sich beinahe schon wie Vorahnungen jener großformatigen Stücke, zu denen sein künftiges Amt an der Spitze des Balletts der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf den Choreografen zwingen könnte.
Grundsätzlich beantwortet die Choreografie die kleinformatigen, aber komplexen Kompositionen Chopins mit Bewegungseinfällen abseits jeder Schablone. Die Tänzer scheinen auf die (leider nur vom Band kommende) Musik (mit einer Einspielung von Grigory Sokolov) beinahe spontan mit ihren körperlichen Verwindungen, Drehungen oder Sprüngen zu reagieren. Dabei hilft ihnen nicht das mindeste Requisit. Die Bühne ist offen und schwarz ausgeschlagen; das Licht, das Stefan Bauer auf die in sportlichen, farblich zurückhaltenden Trikots (von Nelly van de Velden) auftretenden Tänzer gibt, kommt weitgehend von oben und von der Seite. Von den anekdotischen Krücken, welche Chopins Komposition der Beziehung des Komponisten zu der Schriftstellerin George Sand verdankt, macht Schläpfer nicht einmal ansatzweise Gebrauch.
Doch gelegentlich scheinen Erinnerungen an tanzhistorische Ereignisse im tänzerischen Ablauf auf. Jenes melodiöse Prélude Nr. 7 in A-Dur, das Mikhail Fokines 1906 in seinem Ballett „Les Sylphides“ verwandte, lässt Schläpfer nicht nur zweimal wiederholen; er benutzt es auch zur choreografischen Erinnerung an das epochale Stück. Eine ganze Weile später, im 13. Prélude, spielt die Choreografie auf den Schattenakt aus Petipas „Bajadère“ an, und auch kleine Verweise auf Jerome Robbins’ großes, neoromantisches Chopin-Ballett „Dances at a Gathering“ lassen sich finden. Gleichwohl ist „24 Préludes“ alles andere als ein neoromantisches Ballett. Wie „3“ steht es eindeutig in der Tradition Balanchines, und den Spitzenschuh, den nicht nur Schläpfers Tänzerinnen über weite Partien des Stück tragen, sondern den – in einem großen Solo zum 16. Prélude – auch der Tänzer Antoine Jully vorführt, benutzt Schläpfers neues Stück fast wie eine gefährliche Waffe, wenn ihn die Frauenfüße mit äußerster Härte auf den Boden knallen.
Doch nach den neoklassischen Höhepunkte in den ersten zwei Dritteln der Choreografie zieht Schläpfer seinen Damen (und natürlich auch Jully) den Spitzenschuh aus; die Klassik hat ihre Zeit gehabt: Das Ende der Choreografie vollzieht sich, immer noch neoklassisch, aber: auf halber Spitze. Die „24 Préludes“ sind ein meisterliches Werk.
„Pezzi und Tänze“, die den Abend eröffnen, sind ein Geniestreich: 22 Minuten reinen Glücks, den besten Arbeiten Balanchines und Hans van Manens gleichzusetzen. Die Bühne entspricht weitgehend der der „Préludes“, und die Kostüme – diesmal von Marie-Thérèse Jossen - sind ähnlich einfach: Trikots mit schwarzem Unter- und grauem, halbdurchsichtigem Oberteil. Für die Musik hat Schläpfer drei Stücke für Sopransaxophon des Italieners Giacinto Scelsi mit 15 Walzern für Violine und Gitarre, arrangiert aus den 36 Originaltänzen op. 9 D 365 von Franz Schubert, zusammengespannt: durchaus mehr als nur ein aparter Kontrast.
Die Besetzung ist nur halb so groß wie bei den „Préludes“; fünf Frauen und fünf Männer, die erst nach dem letzten Vorhang zusammen erscheinen; auf den Spitzenschuh hat Schläpfer diesmal verzichtet. Was die zehn – in einem Solo, zwei kleinen Ensembles und einem Duo – tun, lässt sich nicht nur deshalb so schwer beschreiben, weil es ungewöhnlich originell wäre, sondern vor allem, weil es so perfekt ist: wie jene ideale Plastik, von der Michelangelo meinte, man müsse sie einen Abhang hinunterrollen können, ohne dass irgendetwas abbräche. Das Stück kulminiert – zu Schuberts Musik – im abschließenden Duo für Yuko Kato und Jörg Weinöhl: ein Paartanz voller Witz und Zärtlichkeit, mit Emotionen aufgeladen noch in der kleinsten Geste, der Endlichkeit aller Liebe nur zu bewusst – und unter Schmerzen lächelnd über dieses Wissen.
Natürlich ist der Abend völlig falsch gebaut. Er dauert drei Stunden und setzt in den ersten zwanzig Minuten einen Maßstab, den er selbst dann nicht mehr übertreffen könnte, wenn er im weiteren Verlauf mit besseren Stücken aufwartete, als es Hobbs’ „mono no aware“ und Schläpfers „24 Préludes“, so gut sie auch sind, darstellen. Aber mit der bleibenden Erinnerung an „Pezzi und Tänze“ übersteht der Zuschauer nicht nur den Rest des Abends, sondern auch den Heimweg und die folgende Nacht. 22 Minuten reinen Glücks: Wann erlebt man die schon mal?
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