Amerikanischer Überfall
Martin Schläpfers Abschiedsprogramm
Ballettdirektor Martin Schläpfer wird heiß geliebt vom Mainzer Publikum - dabei strengt er sich wirklich an, das zu ändern. In seinem letzten, stark verrätselten Ballett zu Schubert-Musik irritierte er die Zuschauer nicht nur mit einem Teddybär, für seine neueste Uraufführung hat er sich jetzt die spröde Musik des Stuttgarter Komponisten Helmut Lachenmann ausgesucht, statt der ursprünglich geplanten Jazzsongs. Umrahmt wird Schläpfers Uraufführung von zwei Balletten Hans van Manens; der holländische Meisterchoreograf ist als der Hausgott des Mainzer Balletts regelmäßig im Repertoire vertreten.
Der Abend, der durchweg auf flacher Sohle getanzt wird, beginnt mit der deutschen Erstaufführung von „Monologue, Dialogue“, van Manens vor zwei Jahren entstandenem letzten Werk für seine ehemalige Heimatkompanie NDT. Zu Klaviermusik von Bach und Scarlatti entfaltet sich eine glasklare Struktur: dreimal folgt auf ein schnelles Frauen-Solo ein langsamer Pas de deux. Und wie es einem Klassiker gebührt, spielt der Altmeister weise, fast heiter mit dem Bewegungsrepertoire, aus dem sich sein signifikanter Stil zusammensetzt - die in die Luft geworfenen Hände, die schlängelnden Hüften, die klassisch-elegante Grundierung. Ein wenig aber vermisst man die Tiefe, die Intensität früherer Werke, vielleicht lag das auch an den Mainzer Interpreten. Van Manen braucht starke Tänzerpersönlichkeiten, und er braucht geschmeidige, elegante Tänzer; das Geheimnis seiner Ballette, das hinter all der modernen Kühle glimmende Pathos entsteht durch winzige Momente, durch eine kurze Konfrontation, einen verzögerten Abgang, einen letzten Blick zurück - durch eine Feinheit und innere Spannung, die manchen der eher athletischen Mainzer Tänzer noch fehlt.
Was man auch im dreißig Jahre alten Klassiker „Große Fuge“ sah, die zum Abschluss des Abends seltsam hektisch wirkte und im Grunde zu klassisch getanzt wurde, bis hin zum ständigen Dornröschen-Lächeln einer Dame. Die „Tanzsuite“ ist ein schwieriges, groteskes Stück, getanzt zu einer im Grunde nur intellektuell erschließbaren Musik. Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“, ein Werk für Orchester mit Streichquartett aus dem Jahr 1980, ist im typischen Lachenmann-Stil als „Musique concrète instrumentale“ komponiert, das heißt den Instrumenten werden alle anderen als die vorgesehenen Klänge entlockt. In diesem Ozean fremdartiger Geräusche sind weder das Deutschlandlied noch die zitierten Kinderlieder tatsächlich erkennbar.
Auf geheimnisvolle Weise aber schaffen es der Choreograf und seine 19 Tänzer, diese spröde, der Tanzbarkeit eigentlich zuwiderlaufende Musik auf eine Weise zu visualisieren, die hochmusikalisch aussieht. Die klugen, vollkommen in Schläpfers Empfindsamkeit aufgehenden Tänzer greifen hauptsächlich die rhythmischen Akzente auf und kennen das Werk (das wie der gesamte Abend vom Band eingespielt wird) in- und auswendig. Schläpfer scheint die gesamte Ideenvielfalt des Komponisten an neuen, nie gehörten Tönen in Bewegung umzusetzen, er entfesselt eine unglaubliche Vielfalt an Assoziationen.
Das Stück beginnt vor einem riesigen Fernseh-Testbild (die gesamte Rückwand ist Projektionsfläche), in dessen knallbunten Farben auch die durchgehenden, einfarbigen Trikots der Tänzer gehalten sind. Überhaupt ist die „Tanzsuite“ ein farbenfrohes Ballett - im Lauf des Abends macht die Projektion alle möglichen Arten von Bildstörung durch, vom Grieseln bis zu flimmernden Streifen, und erstrahlt auch in Neongrün oder in künstlichem Lila. Manchmal erscheinen Köpfe in Großaufnahme, zum Schluss eine Supernova - Ausstatter Keso Dekker hat ebensoviel Anteil an diesem faszinierenden Werk wie Schläpfer und Lachenmann. Ganz dem Titel „Tanzsuite“ entsprechend folgen zu den 17 Teilen der Musik choreografische Stationen und Bilder aufeinander, die nahtlos ineinander übergehen.
Strukturiert wird das Stück durch bestimmte Personen, die leitmotivartig immer wieder auftauchen - eine schwarze Dame mit Stock und Hut, oder der Tänzer Jörg Weinöhl als eine Art Chef und Guru des Ganzen. Groteske oder auch banale Assoziationsfetzen aus Alltag, Fernsehen, Fantasie durchsetzen die Choreografie: Schläpfers Tänzer schlagen wie Marionetten aufeinander ein, joggen oder schwofen. Dazwischen bricht immer wieder die Klassik ein, als Rettung oder als trauriges Zitat, in virtuos-grotesken Solos oder athletischen, davonfliegenden Ensembles. Sekundenlang missbraucht Schläpfer Lachenmanns Geräusche als Slapstick-Begleitung oder für pantomimische Aktionen, irgendwann reckt das gesamte Ensemble bunte Papierbüschel in die Luft wie selbstgebastelte Engelsflügel, streckt dem Publikum die Hintern entgegen und wackelt damit. Die knallbunte, durch Deutschland zappende Bilderwelt - von rastloser Hektik zu zeitloser Slow-Motion, von Groteske zu reiner Schönheit - endet in den Grautönen eines Schwarzweißfernsehers.
Martin Schläpfers Ballette werden hermetischer, sie geben ihr Geheimnis immer schwerer preis, aber ihre Faszination strahlt immer heller. Die Mainzer Zuschauer erkennen ein Meisterwerk - die Uraufführung war heftig umjubelt.
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