Bach und Cage treffen sich beim Tanztheater in Halberstadt

„ ...und frei, in stiller Selbstgewalt“ - Fein gewirkter Bilderteppich zu Zeit und Raum

Halberstadt, 13/02/2007

Wer hätte vom touristischen Halberstadt eine Affinität zu John Cage erwartet! Seit 2000 wird dort im Burchardikloster „ORGAN²/ASLP“ des amerikanischen Komponisten aufgeführt. Über 639 Jahre soll sich dieses zeitüberspannende, die Generationen verbindende Orgelkonzert erstrecken, was wohl auf ein kurzes Pling alle paar Sommer hinauslaufen dürfte. Damit nicht genug Avantgarde. Im backsteinernen Nordharzer Städtebundtheater bringt eine Tanzproduktion Bach und Cage zusammen, auch wenn 227 Jahre, mehrere Gesellschaftsordnungen, tiefe Wasser und konträre künstlerische Auffassungen die beiden Musiker trennen. Für mathematisch ziselierte Ordnung und verinnerlichtes Gotteslob steht der Thomaskantor, um Sprengung jeglicher Begrenztheit, seien es Zeit, Norm oder Form, ging es dem 1992 verstorbenen Experimentator aus New York. Zeit dicht mit Klang zu füllen vermochte Bach, Zeit durch bewusst spärlich verteilte Töne hörbar zu machen - dabei die Interpreten zu Improvisation auffordernd - gelang Cage, nicht zuletzt durch die seinen Kompositionen eingelagerte Stille. Dieser Kontrast reizte Intendant André Bücker und Ballettchef Jaroslaw Jurasz zu einer spartenübergreifenden Zwei-Stunden-Inszenierung.

„... und frei, in stiller Selbstgewalt“ bettet den sperrigen Cage im sanften Bach und verbündet ihnen Hölderlin, Novalis und Heiner Müller in einem Tanztheater aus 18 Teilen. Klang, Gesang, Wort und Tanz auf der Suche nach gemeinsamer Haltung zu Kunst, Zeit, Welt, nach einem gemeinsamen Nenner auch. Als Zeitverdeutlicher platziert Ausstatterin Alrune Sera zwei gewaltige Uhrwerke flach über der Szene. Mehrfach werden sie von den Tänzern in Gang gesetzt, mehrfach entschwinden sie nach oben, geben der Aktion Platz. Bis an den Rand des überdachten Orchestergrabens ist die Bühne nutzbar, vor der Brandmauer haben die Musiker ihr Podest. Davor, auf weißem Grund, trainieren sich zwischen schwarzen Stühlen und in festlicher Kleidung die acht Tänzer ein. Auf Uhrgong und Zeitschläge setzt Dirigent Johannes Rieger Bach in Gang: Contrapunctus aus „Kunst der Fuge“, der den Abend rahmend auch beschließen wird. Kommentare, Reflexionen, Stimmungen sind es, die sich wie ein Bilderbogen ausrollen, scheinbar unzusammenhängend und am Ende doch zusammenfließend unter der Klammer menschlichen Bemühens, der Zeit Inhalt aufzuprägen. Aus dem Saal schleudert der Opernchor die langgezogenen Vokalisen von Cages „Four²“ nach vorn, wo Julien Avril in einem Solo gegen die Lethargie seiner abgewandt sitzenden Kollegen antanzt und stumm einen Gesangston aufnimmt.

Als der Chor das titelgebende Hölderlin-Fragment skandiert und sich darüber zerstreitet, zwackt mit einer Zange die Sopranistin Kerstin Pettersson, abendlange Wanderin, die Fäden zwischen den Worten durch. Zu Cages „In the Name of the Holocaust“ für präpariertes Klavier und entsprechend gebremst anschlagende Saiten möchte Wendy Beeckman durch Balancen auf Spitze Zeit festhalten, bis kraftvolle Akkorde sie niederschmettern. Bachs „Brandenburgisches Konzert Nr. 3“ wird zum heimtückischen Wettlauf um freie Stühle, das Preludium aus einer Cellosuite zum Paarkampf, ein Kantatenchor zum Wegwerfprogramm abgesungener Notenblätter, gestisch begleitet von den im Saal verteilten Tänzern. Hinter dem Auditorium lässt die Sängerin Cages „Five“ über die Köpfe hallen, eine Tänzerin sucht die Uhrwerke anzuhalten, in jene Zeit eingreifen, die Cage mit Klang ummantelt. Die Pendelbewegung tänzerisch aufzufangen und fortzuspinnen wäre hier reizvoll gewesen. Dem sperrt sich der klassische Tanz als Basissprache: angekippt und abgewinkelt zwar, doch mit zu vielen Arabesquen, Attitüden, Pirouetten.

Was mit einer unkonventionelleren Tanzerfindung möglich gewesen wäre, zeigt in einem Solo Timo Bartels, paluccagestählter Neuzugang aus Dresden, zu Cage für Sopran und Schlagwerk: In freier Gestaltung reagiert sein Körper brillant geschmeidig auf die Musikpassagen, erstarrt lauschend während der Gesangsteile. Gehaucht und in Bruchstücken hört man Müllers „Leere Zeit“, geflüstert eine der „Hymnen an die Nacht“ von Novalis. Kraftvoll aktiviert dann Ivaylo Alexiev seine Mannschaft, ehe sich Tänzer und Chor zum Schluss-Bach niedersetzen, jeder mit einem Symbol der Vergänglichkeit: Blume, Puppe, Wecker, Pumps, Apfel. Über einem anregenden Abend löscht am Klavier der Dirigent die Stehlampe.


Wieder 17.2., 9., 13., 24.3., 5., 13.4., Kartentelefon 03941/696565

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