Wegweisende Reisen

Die Gala zu Ehren John Crankos beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 29/10/2007

Auf „die großen Vier“, so erzählt Ballettchef Reid Anderson vor der Gala, habe er sich konzentrieren wollen, also auf die Choreografen, die John Cranko noch persönlich entdeckt und engagiert hat. Im Jahr seines achtzigsten Geburtstags widmete das Stuttgarter Ballett seinem unvergessenen Direktor eine erste „Hommage à Cranko“, eine weitere Gala folgt im Dezember. John Neumeier, Jiří Kylián, William Forsythe und Uwe Scholz haben John Cranko noch persönlich erlebt, wenn auch manchmal nur kurz - die Werke dieser großen Choreografen standen am Freitag im Mittelpunkt der Gala im Stuttgarter Schauspielhaus. Die schöne Dramaturgie des Abends stellte jeweils ein frühes Stück, das für die Stuttgarter Kompanie entstanden war, einem späten Stück für die eigene Kompanie gegenüber (was nicht immer ganz gelang). Heraus kam ein kleiner Einblick in die Ballettgeschichte der letzten dreißig Jahre, bei dem man vor allem die faszinierende Entwicklung von Kylián und Forsythe vor Augen geführt bekam, ihre von Cranko beeinflussten Anfänge im klassischen Idiom und ihren wegweisende Reise in die Moderne.

Schon in „Rückkehr ins fremde Land“ ließ Jiří Kylián 1975 alle Bewegung seidenweich fließen und den Tanz allein aus der Musik entspringen (Beatrice Knop vom Berliner Staatsballett sehnte sich auf den Schultern zweier arg angestrengter Stuttgarter). Das ist bei aller intellektuellen Verdichtung und Symbolik, bei aller Hinwendung zu elektronischer Musik heute noch genauso, wie Aurélie Cayla und Bastien Zorzetto vom NDT in einem Pas de deux aus „27.52“ bewiesen. Auch Kyliáns Liebe zur Symmetrie hat sich erhalten - beide Tänzer igeln sich zwar im Tanzteppich ein, aber schön an der Mittelachse gespiegelt.

William Forsythe hat im Lauf seiner langen Karriere seinen Stil sicher am stärksten verändert; wie schade, dass als Ergänzung nicht noch ein Ausschnitt seiner aktuellen, wieder ganz anderen Sprache zu sehen war. Im Gegensatz zur tiefen Empfindung seines allerersten Pas de deux „Urlicht“ (dem bei Laura O’Malley und Jason Reilly die Innigkeit fehlte) legt das elf Jahre spätere „In the middle somewhat elevated“ eine kühle Distanz zwischen Bewegung und Inhalt. Ob das messerscharfe, stark rhythmische Duett wirklich so vordergründig sexuell aufgeladen sein muss, sei dahingestellt; Alicia Amatriain durfte endlich einmal mit ihrem hyperbiegsamen Körper brillieren, der blendend aussehende Robert Bolle aus Mailand tanzte zu langsam, beeindruckte aber allein durch seine starke Präsenz.

John Neumeiers Stil hat sich im Lauf der Zeit nie stark verändert und ähnelt bei aller psychologischen Durchdringung noch am meisten dem Vorbild Cranko. Das bald nach Crankos Tod entstandene Trio „Nacht“ allerdings wirkt mit seiner merkwürdig spät einsetzenden Mahler-Musik arg introvertiert und hermetisch, da mochten sich Joëlle Boulogne, Carsten Jung und Otto Bubeníček vom Hamburger Ballett noch so emotional verausgaben. Stuttgarts nach wie vor große Neumeier-Tradition vertraten Sue Jin Kang und Marijn Rademaker mit dem schwarzen Pas de deux aus der „Kameliendame“.

Wie schade, dass von Uwe Scholz keines seiner frühen Stuttgarter Stücke wie „variation -1“ oder „Air!“ zu sehen war - aber natürlich sind die „Notations I-IV“ von 1996 ein tolles Galastück und eine tänzerische Tour de Force, bei der Alexander Zaitsev leider nicht in der Form war, mit der er damals der Urbesetzung Vladimir Malakhov Paroli bot. Maja Veljkovic und Jean-Sébastien Colau vom Leipziger Ballett zeigten mit dem beklemmenden Gefängnis-Pas-de-deux „Dans la Marche“ wieder eine andere, sehr an Cranko erinnernde Seite von Scholz, den man in Stuttgart sonst eher durch seine großen konzertanten Werke kennt.

Gegen die geballte europäische Topliga hatten es die „zweieinhalb“ Stuttgarter Haus-Choreografen (so Ballettchef Anderson, der den als Ersten Solisten engagierten Douglas Lee damit zu einem halben Choreografen machte) doch ein wenig schwer - den Ausschnitt aus Lees jüngstem Stück „Dummy Run“ könnte man auch mit dem Titel „verknotet Alicia“ überschreiben, das hübsche Finale aus Christian Spucks „das siebte blau“ wirkte gegen die intellektuelle Konkurrenz etwas leichtgewichtig. Erstaunlich aber, wie gut „Äffi“, wie gut Marco Goeckes durch und durch eigene Handschrift neben der Modernität von Kylián und Forsythe bestehen konnte - Interpret William Moore, gerade mal zwei Jahre in der Kompanie, war trotz Bolle und Bubeníček so etwas wie der heimliche Star des Abends.

Begonnen hatte die Cranko-Woche am Donnerstag mit einer Demonstration, wie sorgfältig das Erbe des großen Choreografen in Stuttgart bewahrt wird - „Der Widerspenstigen Zähmung“ war bis in die kleinste Nuance, bis in die schrulligste Nebenrolle liebevoll aufpoliert. Das ist größtenteils sicher der Cranko-Bewahrerin Georgette Tsinguiridis zu verdanken, aber auch einem Tänzerensemble, das Crankos feine Charakterisierungskunst nicht nur getreulich wiedergibt, sondern aktiv mitdenkt und mitlebt. Wie rührend lässt Sue Jin Kang mitten in Katharinas um sich schlagender Misanthropie den ersten Funken eines neuen Gefühls aufschimmern, die erste Regung der Liebe zu Petruchio, wie sensationell springt Filip Barankiewicz die berühmt-berüchtigten Dreifach-Tours Petruchios (und macht dadurch sein klischeehaftes Macho-Porträt tausendmal wett). Wie gut haben die beiden verstanden, dass Cranko im Schluss-Pas-de-deux die gleichberechtigte Liebe siegen lässt, wenn die „gezähmte“ Katharina minutenlang durch die Luft schwebt, auf Händen getragen von ihrem „Bezwinger“ Petruchio. Diese Art von „Hommage à Cranko“ ist in Stuttgart zum Glück an der Tagesordnung.


Link: www.stuttgart-ballet.de

 

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