Wegweisende Reisen
Die Gala zu Ehren John Crankos beim Stuttgarter Ballett
Viel Technik, wenig Gefühl: Kylián, Cranko, Forsythe und Scholz beim Stuttgarter Ballett
Genau wie die Suche nach neuen Choreografen gehört auch die Pflege des Repertoires zu den Aufgaben einer großen klassischen Ballettkompanie. Ihr widmet sich das Stuttgarter Ballett meist mit viel Sorgfalt und Hingabe, nur vielleicht im Vergleich zu früheren Zeiten etwas engstirnig in der Auswahl. Wohl versammelt der Abend „Kylián / Cranko / Forsythe / Scholz“ vier wertvolle und auch musikalisch schöne Stücke, begleitet vom Staatsorchester unter James Tuggle. Und doch sind sie über die Jahre hinweg in Stuttgart so oft gezeigt worden, dass man den Stoßseufzer „schon wieder“ kaum unterdrücken kann. Von einem neuen Kylián, einem neuen Forsythe wagt man als Zuschauer in Stuttgart schon gar nicht mehr zu träumen, und sei es nur der Ankauf eines Werkes vom Nederlands Dans Theater oder dem ehemaligen Frankfurter Ballett. Schon wieder die „Siebte“ also?
Das neoklassische Beethoven-Ballett von Uwe Scholz, 1991 für die Stuttgarter Kompanie kreiert und sicher eines der besten Werke des früh verstorbenen Choreografen, befindet sich seit 2001 fast ständig im Repertoire der Kompanie, wahrscheinlich wird es deswegen so mitreißend und strahlend getanzt. Zu Beethovens siebter Sinfonie, der „Apotheose des Tanzes“, brilliert das Corps in all seinen Linien, Gruppen oder Diagonalen. Marijn Rademaker und William Moore springen als Joker durch den dritten Satz, beim Solistenpaar vereint Maria Eichwald technische Perfektion mit Eleganz und Charme, sie wird von Jason Reilly geradezu halsbrecherisch durch die Lüfte geworfen.
Ähnlich virtuos geht es in „The Vertiginous Thrill of Exactitude“ zu, alles andere als ein typischer Forsythe, eher das Sahnetörtchen im Werk des Frankfurter Avantgardisten - ein Werk, das er gerne den großen klassischen Kompanien überlässt, wo es wie ein Perpetuum Mobile am Rande der Parodie kreiselt und doch nie umkippt. In der Frankfurter Uraufführung stand in Anspielung auf Balanchines Ballette noch „Himmelblauer Hintergrund“ auf dem rückwärtigen Prospekt, das fehlt heutzutage; zum Finalsatz aus Franz Schuberts 9. Sinfonie überbieten sich drei Ballerinen in olivgrünen, flachen Tellertutus und zwei Männer an rasender Dynamik. Mit einem coolen „Schaut was ich kann“ im Gesicht mischen sie die Strukturen des klassischen Balletts auf, stellen ganz offen die Virtuosität um ihrer selbst Willen aus und unterminieren Schuberts strahlendes C-Dur nur manchmal mit einem ironischen Hüftkick.
Man bekommt genau das serviert, was im Titel steht: den „schwindelerregenden Nervenkitzel der Genauigkeit“. In Stuttgart sorgen dafür die umwerfende Hyo-Jung Kang (mit feinster Phrasierung und übermütigen Balancen), Anna Osadcenko und Elizabeth Mason sowie Marijn Rademaker und Evan McKie, der Mann mit dem sexy Hüftschwung. Seltsam seelenlos aber wirken neben so viel virtuoser Neoklassik die anderen beiden Werke des Abends. Zu oft absolvieren Reid Andersons technisch so fabelhafte Tänzer hier Schritte, die sie zwar artig gelernt haben, aber nicht verstehen. Wo uns ihre Bewegungen von Einsamkeit, Verlust oder Wut erzählen sollten, da sieht es sportiv aus oder meistens einfach leer.
Ganz fatal wirkt sich das bei John Crankos „Opus 1“ aus, ein kurzes Ballett über ein ganzes Leben, das einst zu Anton Weberns Passacaglia op. 1 für Richard Cragun und Birgit Keil entstand. Von deren Intensität allerdings scheinen Jason Reilly und Alicia Amatriain hier genau die 45 Jahre entfernt, die seit der Uraufführung vergangen sind. Es wackelt, wo es fließen sollte, statt einfach und klar wirkt das Stück plötzlich schwerfällig, ja altbacken.
Als Ensemblestück in gedämpften Farben erinnert Jiří Kyliáns „Vergessenes Land“ an Bilder von Vögeln im Sturm oder von einsamen Menschen am Meer, die dramatische Choreografie steckt voll heftiger Emotionen. Zu Benjamin Brittens „Sinfonia da Requiem“ werfen sich die Tänzer einander in die Arme, die Männer schleudern die Frauen um sich oder sie gleiten über den Boden, die Arme weit ausgebreitet wie zum Flug – doch stets in diesem musikalischen, eleganten Fließen, das durch all seine choreografischen Phasen und bis zu seinem jetzigen Surrealismus Kyliáns Markenzeichen blieb. Den meisten der zwölf Stuttgarter Tänzer aber fehlt die Leidenschaft, die Vehemenz der Bewegungen, selbst die sonst so starke Sue Jin Kang scheint an Ausdruckskraft eingebüßt zu haben.
Elizabeth Masons zarte Arme oder Alexander Zaitsevs Hineinwerfen in die Choreografie können nur wenig über die emotionslose, neutrale Interpretation hinwegtrösten; schade, dass Bridget Breiner nicht dabei war, das wäre genau ihr Stil. Wer das Stuttgarter Ballett an diesem Abend sieht, der muss den Eindruck gewinnen, dass die Kompanie nur dann exzellent ist, wenn es um schöne Linien und musikgeborene Neoklassik geht. Erschreckende Defizite aber offenbaren sich, wo die Tiefe des Ausdrucks gefordert ist, die Expressivität der Bewegungen, das Erlauschen von Empfindung aus der Musik - letztlich das, was den Tanz ausmacht.
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