Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Eine leere Bühne, ein Hauch von blauem Himmel, ein paar Walzer und Mazurken von Chopin: mehr braucht es nicht für eines der schönsten Ballette des 20. Jahrhunderts. „Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins ist eine Stunde reiner Tanz, dessen federleichtes Glück am Schluss von einer Melancholie des Abschieds durchzogen wird. Die erste der beiden Wiederaufnahmen, die am Karfreitag beim Stuttgarter Ballett Premiere hatten, reiht ihre Solos, verliebten Duette und verspielten Ensembles mit den Mitteln des klassischen Tanzes aneinander, aber so ungekünstelt und musikgeboren, als würden sie den zehn jungen Menschen gerade erst einfallen.
Die hellen Farben, die Andeutungen von Volkstanz und Kinderspiel evozieren die Atmosphäre eines Frühlingstags. Das Stück ist eine Hymne auf die Freundschaft und das ungetrübte Glück der Jugend. Die Heiterkeit aber ist nur Erinnerung: Am Schluss versammeln sich alle fünf Paare und sehen stumm die drohende Gefahr am Horizont aufziehen. Nachdenklich berührt der Tänzer des ersten Solos die Erde; sie wissen, was sie verlieren. Als Abschied von der Jugend, als wehmütige Erinnerung ans klassische Ballett, ja selbst als flehentlich-unschuldiger Gegenentwurf zum damals tobenden Vietnamkrieg ist das 1969 entstandene Ballett schon gedeutet worden - und ist doch, wie jede große Kunst, bei aller Symbolträchtigkeit so einfach, so schlicht.
Fast alle Stuttgarter Tänzer tanzen so mühelos und leicht, wie es das Stück erfordert; zu den Höhepunkten gehören die beiden Pas de deux von Sue Jin Kang und Jason Reilly, auch Mikhail Kaniskin in der Edward-Villella-Rolle des Manns in Braun, Alicia Amatriain, Elisa Carillo Cabrera und Filip Barankiewicz treffen den grazilen, luftigen Stil. Oihane Herrero aber zum Beispiel fehlt das feine Rhythmusgefühl für das Solo des Mädchens im grünen Kleid.
Der zweite Teil des Abends, Maurice Béjarts „Gaîté Parisienne“, beginnt mit einer Ballettparodie. Wie die Feen in „Dornröschen“ erscheinen nacheinander sechs junge Männer an einem Gitterbettchen und präsentieren ihre getanzten Geschenke: perfekte Arabesquen, virtuose Sprünge, Geschmeidigkeit und so weiter. Als letzte huscht mit hämischem Gelächter die böse Fee auf die Bühne, die sich unter ihrem dunklen Umhang als strenge Ballettlehrerin Madame Rousanne entpuppt und dem jungen Mann im Bett gleich mal die Meinung sagt: „Aus dir wird nie was werden!“. Denn Bim, der in Paris tanzen lernen will, ist nicht nur zu klein, er ist vor allem ein Träumer – deshalb kommen sich in dieser turbulenten Revue die harte Welt des Ballettsaals und Bims verrückte Fantasien immer wieder ins Gehege. Er träumt von der Liebe, sieht seinen Vater als Husar und Napoleon als seinen Freund, Terpsichore singt ihm eine Arie und Ludwig II. steigt aus seinem Schwanenmachen.
In witzigen, absurden Szenen rast Maurice Béjart quer durch die Zeiten, inspiriert von seiner eigenen Biografie und von der Erinnerung an seine ballettbesessene Lehrerin (die übrigens auch Roland Petit, Jean Babilée und Yvette Chauviré ausbildete). Zuletzt stand das fast dreißig Jahre alte Ballett in Marcia Haydées Abschiedsspielzeit auf dem Plan - und es ist wirklich faszinierend, wie begeistert sich nun auch Reid Andersons neue Tänzergeneration die verrückten Gestalten zu eigen macht: die sechs frechen Freunde (Filip Barankiewicz, Marijn Rademaker, William Moore, Damiano Pettenella, Stefan Stewart und Laurent Guilbaud), Jiri Jelinek als zackiger Husar und liebevoller Vater, Douglas Lee als wahnbefangener Ludwig, Jason Reilly und Katja Wünsche als das wunderbare Tanzpaar, das die alte Madame und ihr Schüler so gerne wären. Hinreißend wie schon in der Stuttgarter Premiere 1983: Marcia Haydée als die bei aller Strenge etwas schräge Madame, die verrucht ihr Knie enthüllt oder als Sylphide posiert, ebenso hinreißend Alexander Zaitsev als der nie ganz korrekte Bim, der so selig in seine Fantasien hineintanzt (weshalb er in Person von Maurice Béjart einfach Choreograf werden musste, um Ballette wie dieses zu schaffen).
Am Schluss tobt praktisch die gesamte Kompanie zu Jacques Offenbachs „Can-Can“ über die Bühne, bei dem selbst der Komponist die Beine schmeißt - in der ehemaligen Rolle von Uwe Scholz wieselt nun Eric Gauthier als eine Art ironischer Kugelblitz mit Zylinder herum und berührt kaum je den Boden. Was für eine triumphale Rückkehr! Steht nur zu hoffen, dass jemand Maurice Béjart davon erzählt, wie liebevoll sein Ballett hier getanzt wird, damit er als nächstes endlich wieder die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ nach Stuttgart gibt. Oder womöglich gar den „Bolero“ ...
Außer ihrer hohen choreografischen Dichte - wahrscheinlich bietet diese Premiere mehr Tanz als die letzten drei Uraufführungen zusammen - haben das zarte Robbins-Ballett und die virtuose Béjart-Revue auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Aber beide gründen auf etwas, was modernen Balletten viel zu oft fehlt: auf Poesie und Liebe zu den Menschen. Schon deshalb sind sie bei John Crankos Kompanie in den besten Händen.
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