Die Summe unserer Zumutungen

Düsseldorfs Neuer Tanz mit VA Wölfls neuem Stück bei der Ruhrtriennale in Essen

Essen, 21/10/2007

Im letzten Mai brachte die Düsseldorfer Gruppe Neuer Tanz in ihrem Domizil im Marstall des Schlosses Benrath VA Wölfls Stück „12“ heraus: eine schräge, introvertierte Veranstaltung der Popmusik – und alles andere als das Gelbe vom Ei. Fünf Monate später war Neuer Tanz an drei Abenden im PACT Zollverein in Essen bei der Ruhrtriennale zu Gast, und wesentliche Teile von „12“ sind in Wölfls neuem Stück „12/…im linken Rückspiegel auf dem Parkplatz von Woolworth/ Mittelalter Edition“, das sich selbst als „ein Stück Theorie über Tanz, Bewegung und Stillstand“ bezeichnet, aufgegangen.

Die Struktur des Werks hat sich kaum geändert; ein Tanzstück ist auch die neue Produktion mit dem ellenlangen Titel nicht. Tatsächlich machen die drei Frauen und fünf Männer, die Wölfl auf die Bühne schickt, vor allem Musik und einen infernalischen Lärm. Sie lassen Hubschrauber dröhnen, Panzer rasseln, Bomben explodieren. Mit elektronischer Verstärkung spielen sie auf Geigen, Schlagzeugen, E-Gitarren, einer Trompete und elektrischen Klavieren, und sie singen, was die Kehle hergibt: vorwiegend englische, manchmal auch deutsche Popmusik, zuweilen auch einfach nur Täterätätä. Sie zeigen, dass man mit Schallplatten auch Töne erzeugen kann, wenn man sie nicht abspielt, sondern vor Mikrophonen verbiegt. Einer der Männer winselt ein Lied von Gustav Mahler ins Mikro und wird dafür von einem Kollegen gelobt: „Thank you, Mr. Dietrich Fischer-Dieskau“.

Eine der Frauen gibt ein gekonntes Orgasmus-Gestöhne in das sich überlappende Klang-Inferno aus Live-Gesang, Geschrei und Zumischung von der Tonkonserve. Was sie an tänzerischer Bewegung dazugeben, ist kaum von Belang. In einer kurzen Sequenz versucht sich das komplette Ensemble an rythmischen Disco-Figuren. Gelegentlich hebt einer der Männer eine der Frauen von der Stelle und setzt sie anderenorts in einer Ballett-Arabeske wieder ab. Kurz vor dem Finale trifft man sich paarweise an der Rampe zu schönen, gelassenen Partner-Aktionen, bei denen sich Hände und Arme vertrauensvoll abtasten und ineinander verschränken. Gegenüber den alten „12“ hat die neue Produktion allerdings eine ganze – politische - Dimension hinzu gewonnen.

Das liegt noch am wenigsten an einer Art Vorhang aus miteinander verbundenen drei Dutzend Skeletten, der an einer S-förmigen Schiene hängt und im Verlauf der Aufführung sehr langsam an der Szene vorbei gleitet. Nach einer knappen Stunde deckt er die Bühne ab; nach einer weiteren knappen Stunde hat er die Bühne wieder gänzlich freigegeben. Wichtiger als der Skelett-Vorhang sind die Texte, die den musikalischen Brei immer wieder mit spitzen Zacken durchstoßen. Eine große Rolle spielen dabei die O-Töne eines amerikanischen Soldatensenders aus dem Irak, die dem Stück, zusammen mit allenfalls unterschwellig satirischen Politiker-Zitaten der Darsteller, einen realistischen Boden einziehen. Vielleicht am bösesten ist ein Zitat, das gar nicht stattfindet: wenn der Hauptakteur (in einer gleich doppelt vorkommenden Szene) einen Ausspruch des neuen englischen Premiers Gordon Brown ankündigt, der ihm dann nicht einfällt – worauf eine der wenigen Passagen folgt, in denen Wölfls neues Stück beredt schweigt.

Nicht die Bewegungen: die Texte sind es, die unsere Wirklichkeit zum Tanzen bringen. Und letzten Endes will es scheinen, als tische Wölfl seinem sehr speziellen, kulturbeflissenen Publikum in knapp zwei Stunden absichtsvoll den ganzen Berg jenes Mistes auf, den sich das große Publikum im Alltag sowohl von seinen überwiegend unerträglichen Politikern als auch von den Schein-Prominenten des Fernsehens bieten lässt, womöglich um herauszufinden, wann den Zuschauern der Kragen platzt. In der Essener Premiere platzte er nur wenigen; nach der ersten halben Stunden verließen gerade mal sieben oder acht Zuschauer, sei es gelangweilt, sei es verärgert, die Aufführung. Der deutsche Zuschauer ist halt geduldig, nicht nur vor der Glotze.
 

Links: www.neuertanz.com / www.ruhrtriennale.de

 

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