Der Philosoph unter den Choreografen

Zum Tod von Maurice Béjart

Stuttgart, 23/11/2007

Er war der letzte der großen Choreografen. Trotz seines Aufstands gegen das Tutu und der oft nicht nacherzählbaren Handlung seiner Ballette, trotz Jeans und Popmusik, trotz seiner Modernität gehörte Maurice Béjart zu der Generation von John Cranko und Kenneth MacMillan, denen das Theatralische im Tanz wichtig war und nicht das Erfinden neuer Bewegungen oder das Zertrümmern der alten. Wie Balanchine gehörte er zu den Choreografen, für die das klassische Ballett auf Spitze unangezweifelt die Grundlage allen Tanzes bildete, wenn auch in seinem Fall wild, ungestüm und rebellisch. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ist Maurice Béjart in seiner Wahlheimat Lausanne im Krankenhaus gestorben, wo er wegen Herz- und Nierenproblemen lag. Schon länger von schwerer Krankheit gezeichnet, hatte sich der 80-Jährige sich zuletzt nur noch selten bei seinen Aufführungen gezeigt, meist saß er im Rollstuhl.

Begonnen hat der als Maurice Berger geborene Franzose in Paris, 1954 gründete er dort seine erste eigene Kompanie, von 1960 bis 1987 leitete er das Ballet du XXe Siècle in Brüssel, von wo ihn Gérard Mortier verjagte (wofür ihn Tanzliebhaber noch heute hassen). Seit 1987 residierte das Béjart Ballet im schweizerischen Lausanne, von wo es immer noch ausgedehnte Tourneen unternimmt. Béjart erzählte für seine großen, abendfüllenden Shows nur selten die alten Klassiker nach, er schuf stattdessen seine eigenen Mythen, brachte die großen Ideen und Gedankengebäude der Menschheit auf die Bühne, die wahnsinnigen Genies, die großen Kunstwerke. Er hat fernöstliche Philosophie vertanzt, Nietzsche und Nijinsky, Mozart und Queen, Beethovens Neunte und Wagners „Ring“. Er ist mit seiner Kompanie in Sportpalästen aufgetreten und hat die Massen begeistert, aber er hat auch so zerbrechliche, intime Stücke geschaffen wie das „Adagietto“ aus Mahlers fünfter Symphonie oder die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ - Choreografien, deren Endgültigkeit jeden anderen Tanzschöpfer von der Idee abbringen muss, zu dieser Musik andere Bewegungen als diese, die richtigen, zu finden.

Für Berlin schuf er 1990 seinen „Ring um den Ring“, zwei Stücke entstanden für die Ruhrfestspiele Recklinghausen, ansonsten hatte in Deutschland das Stuttgarter Ballett viele Béjart-Werke im Repertoire. Denn zu Beginn der achtziger Jahre hatte die damalige Ballettdirektorin Marcia Haydée gemerkt, wie gut ihr als dramatischer Ballerina die Werke Béjarts lagen, sie wurde zu seiner zeitweiligen Muse, und Stuttgart hatte nach und nach ein gutes Dutzend seiner Stücke im Repertoire - darunter Ionescos „Die Stühle“ für Haydée und John Neumeier, die Weltuntergangsrevue „Wien Wien nur du allein“, „Gaîté Parisienne“ und die morbiden Duette für Haydée und den dämonischen Jorge Donn, Béjarts größten Interpreten.

In den neunziger Jahren wurde der Meister dann eigen und gab seine Stücke nur noch ungern an andere Kompanien weiter; seit mehreren Jahren schuf er auch kaum mehr neue Werke, sondern stellte Neukreationen aus Teilen seiner alten Stücken zusammen, ein nicht immer sehr vorteilhaftes Verfahren. Was bleibt, sind Bilder aus seinen Balletten - der „Feuervogel“ als Partisanenkämpfer, die indischen Götter aus „Bhakti“, die Hände der Solistin auf dem roten Tisch, die von zwei Lichtkreisen verfolgt an ihrem Körper herabgleiten, bevor Ravels „Bolero“ in Rhythmus und Erotik explodiert. Auch der viel zu kleine Tänzer Bim (Béjarts Alter Ego) gehört dazu, der alleine vor dem Spiegel des Ballettsaals steht, der wild geschminkte, weinende Jorge Donn als „Nijinski, Clown de Dieu“ oder der Blick des „fahrenden Gesellen“, der sich noch einmal flehentlich umdreht, bevor er resigniert dem Tod nachfolgt. Bilder auch wie das des Choreografen selbst, der am Ende seines Aids-Balletts „Le Presbytère“, wenn „The show must go on“ von Queen aus den Lautsprechern knallt, mit seinen Tänzern langsam aufs Publikum zuschreitet, Anklage und Triumph zugleich in den stechend blauen Augen.

Man konnte gar nicht anders als aus den Sitzen aufzuspringen - Béjart-Aufführungen waren Spektakel und pathetisch, aber sie erfassten ihr Publikum unweigerlich und auf eine viel direktere Weise als der brave, wohlgezierte Tanz, den andere zu dieser Zeit machten. Béjart choreografierte, weil der Tanz für ihn das unmittelbarste aller Ausdrucksmittel war, er brauchte zum Ausdruck seiner Trauer, seiner Lebenslust und seiner Philosophie nichts weniger als den gesamten Körper des Menschen. Am 20. Dezember sollte in Lausanne „Le Tour du Monde en 80 Minutes“ Premiere haben - niemand weiß, was aus den Choreografien und der Kompanie werden wird, die seit einiger Zeit von Gil Roman geleitet wird, dem letzten großen Béjart-Tänzer. Nicht alle Werke des Choreografen sind heute noch so revolutionär wie zu ihrer Entstehungszeit, manches wirkt veraltet und nostalgisch; die Form des modernen Balletts hat sich geändert und oft genug ist dabei der Inhalt abhanden gekommen, den Béjart immer hatte. Viele seiner Stücke aber sind Klassiker der Moderne - steht zu hoffen, dass diese brillanten, wichtigen Stücke nicht auf Nimmerwiedersehen verschwinden. 

 

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