Ewige Liebe zum Vergewaltiger

Bernd Schindowskis „Giselle“ im Musiktheater im Revier

Gelsenkirchen, 22/12/2008

Großes Ballett ist auch für kleine Ballettkompanien längst kein Tabu mehr. Allerdings sind drastische Veränderungen der „Klassiker“ unabdingbar. Bernd Schindowski hat diese Voraussetzung mehr als achtbar in seinem „Nußknacker“ berücksichtigt, indem er eine stimmig reduzierte, witzig-unterhaltsame Fassung „für die ganze Familie“ konzipierte. Nun wagt er sich an die wesentlich heiklere „Giselle“. Zwei Trümpfe hielt er in der Hand: Zum einen steht für diese Ballett-Produktion im Großen Haus des weit über die Stadtgrenzen hinaus renommierten „Musiktheaters im Revier“ die „Neue Philharmonie Westfalen“ zur Verfügung, die Adolphe Adams hinreißende Musik unter Bernhard Stengel bei der Premiere vorzüglich musizierte. Zum anderen ist die weitgehend osteuropäisch-asiatische Truppe in der klassischen Technik geschult.

Auch hat Dramaturgin Anna Melchers der Geschichte durchaus nachvollziehbar zeitgemäße Züge verliehen: So ist Albrecht ein skrupelloser Vergewaltiger der naiven Giselle, seine „Familie“ - die Jagdgesellschaft – eine lächerlich plumpe Horde stark übergewichtiger Fregatten. Myrthas nächtliche Welt der untoten Bräute erinnert an das Totenreich, in das Glucks Orpheus hinabsteigt, um seine Eurydike zurückzuholen: Fünf eher liebliche weiße Wilis tanzen wie Glucks „Glückselige“, während fünf männliche, schwarze Schatten wie die Furien auf Geheiß der nächtlichen Königin irdische Eindringlinge ins Jenseits befördern. Ein letztes Ringen von Hilarion und Albrecht um Giselle endet mit Albrechts Sieg. Die zieht ihren irdischen Peiniger – nicht aus Rache, sondern weil sie sich von ihm nicht zu lösen vermag - im Morgengrauen mit hinab in ihr Grab.

Für den Zuschauer kommt dieser Schluss überraschend. Schindowskis Ironie – etwa der pummeligen Adeligen – wirkt reichlich plump, ebenso seine ständige Fleischbeschau: fast nackte Schatten und pralle Popos in knappsten Tangas unter einem Hauch von Tüll. Futuristische Gebäude im ersten Akt und im „Weißen Akt“ ein Wald aus Seilen, die vom Schnürboden auf die kahle Bühne baumeln, unterstreichen die geradezu anti-romantische Stimmung. Wirklich alarmierend allerdings sind die choreografischen Mängel. Immer wieder vollführen die Tänzer wie Automaten dieselben Posen und Sequenzen. Während das kleine Corps sich redlich um Schwung und Tanzfreude bemüht, sind die starren Masken der beiden Männer, Bogdan Khvoynitskiy (Albrecht) und Min-Hung Hsieh (Hilarion), wie auch die linkische Darstellung von Priscilla Fiuza (Giselle) ein peinliches Ärgernis. Einziger Lichtblick im Solistenquartett ist die blutjunge Alina Köppen als Myrtha. So ist letztlich die „Giselle“ von Ricardo Fernando in Bernd Schindowskis Geburtsstadt Hagen, unter ähnlichen Bedingungen entstanden, auch wegen der passenderen solistischen Besetzung in besserer Erinnerung.
 

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