Frosch statt Prinz

Die erste Premiere von Gauthier Dance im Stuttgarter Theaterhaus

Stuttgart, 12/01/2008

Schon nach einer halben Stunde möchte man Eric Gauthiers Tänzer umarmen. Denn für die Eröffnung des Abends „Six Pack“, für das allererste Stück der neuen Tanzkompanie im Stuttgarter Theaterhaus, hatte ihr Direktor eine brillante Idee: Er zeigt einfach die Audition, bei der er seine Tänzer ausgewählt hat. Angeregt durch die fragende Stimme des Kompaniechefs aus dem Off erzählt jede(r) der sechs ihren oder seinen Werdegang: die Tochter von Sportlern, die ihre ganze Kindheit nur gerannt ist, der toll begabte Brasilianer, dessen Mutter trotzdem immer Angst hatte, dass er als Balletttänzer schwul wird, der Junge aus Brooklyn, der zwei Jahre mit der Familie im Obdachlosenasyl gewohnt hat, die gute Tänzerin, die wegen ihrer Individualität nirgends so recht hineinpasste, die junge Französin, die immer auf der Suche nach Neuem ist und der Kanadier, der trotz seines guten Aussehens nie den Prinz tanzen wollte, sondern lieber den Frosch: „Deshalb bin ich nach Europa gekommen“.

Es ist ein bisschen „Fame“, ein bisschen „A Chorus Line“ und erzählt in sechs verschiedenen Geschichten von der einen großen Liebe, dem Tanz. Gauthier Dance ist eine Kompanie zum Anfassen und macht schon dadurch dem in letzter Zeit arg hochmütig gewordenen Stuttgarter Ballett ernsthafte Konkurrenz. Natürlich will man sich vom Platzhirsch im Staatstheater abheben, ganz klar, deshalb nennt man sich nicht ganz wahrheitsgemäß „Stuttgarts erstes zeitgenössisches Tanzensemble“ - obwohl es bereits Ismael Ivo und Marco Santi hier gab, obwohl sämtliche Tänzer von Gauthier Dance klassisch ausgebildet sind und obwohl vier der fünf Choreografen des neuen Abends schon beim Stuttgarter Ballett gearbeitet haben. Was soll’s, der „Sechserpack“ wird minutenlang rhythmisch beklatscht und die Kompanie mit Sympathie überschüttet.

Gauthier selbst, brillant in Form und immer noch einer der schnellsten, virtuosesten Tänzer Stuttgarts, interpretiert zwei Solos, ein Psychoduell zwischen Tänzer und (unsichtbarem) Choreografen namens „2nd Monkey“ von Itzik Galili und das herrlich selbstironische „Air Guitar“, das er selbst für den letzten Noverre-Workshop kreiert hatte. In seiner Uraufführung „The Blind Leading the Blind“ lässt der neue Tanzdirektor einen blinden Mann (Theaterhaus-Schauspieler Günter Brombacher) von seinen Erlebnissen und Träumen erzählen, die Gauthier dann mit kurzen, dezent ins Absurde abhebenden Szenen bebildert: die Rockstars mit überlangen Haaren, ein zu Tode gefüttertes Aquarium, Joggen im Wald. Es ist alles recht witzig, choreografisch nett anzusehen und insgesamt so harmlos, dass man es fast für ein Kinderstück hält.

Gauthier macht hübsche Stücke mit sehr viel Humor, aber er bleibt weiterhin den Beweis schuldig, dass er ein guter Choreograf ist - die tatsächlichen Schritte wirken eher wie ein ironisches Arrangement des vorhandenen Materials. Es wird spannend, ob diese Art von Ballett-Comedy, so originell sie auch sein mag, als Programm für eine Tanzkompanie ausreicht. Zumal auch „Ball Passing“ von Charles Moulton in die gleiche Kerbe schlägt, ein fast dreißig Jahre altes und in zahlreichen Fassungen getanztes Kultstück, in dem kleine Schaumstoffbälle weitergereicht werden - in so hochkomplizierten und rasend schnell ausgeführten Anordnungen, dass man die Tänzer für Zauberkünstler hält.

Erst mit dem letzten Stück wird es ernst - oder zumindest zweideutig, denn der Humor von „Susto“ hat durchaus etwas Bedrohliches und Groteskes. Paul Lightfoot und Sol León, die Hauschoreografen des Nederlands Dans Theaters, lassen aus einer riesigen Sanduhr die Zeit auf den Köpfen der Tänzer verrinnen - und zwar mit etwas mulmiger Ironie zum ersten Satz von Beethovens Fünfter mit dem berühmten Schicksalsmotiv, in dem angeblich „der Tod anklopft“. „Susto“ ist das spanische Wort für einen existenziellen Schrecken, und der fährt den vier Interpreten hier wahrhaftig in die schlenkernden Glieder. Schon allein, um die Ausdrucksstärke seiner exzellenten, sehr individuellen Tänzer zu zeigen, wünscht man sich für Gauthier Dance weniger Spaß und mehr von dieser Art Tanz.

Link: www.theaterhaus.com

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