Leitungswechsel
Katharina Christl übernimmt Leitung der Palucca Hochschule Dresden
Wozu eine neue „Bayadère“, wenn sie aussieht wie die alten? Weil es gar nicht genug „Bayadèren“ geben kann, weil der Schattenakt, wenn er so magisch getanzt wird wie in Dresden, wirklich zu einem „Gedicht über das Tanzen“ und zu einer der schönsten Inkarnationen des Ballet blanc wird, weil die exotische Dreiecksgeschichte zwischen der Tempeltänzerin Nikija, ihrem geliebten Krieger Solor und der eifersüchtigen Radscha-Tochter Hamsatti einfach ins Repertoire der großen Opernballettkompanien gehört.
Schließlich zeigt das Dresdner Semperoperballett mit Aaron Watkins Inszenierung bereits die fünfte Version in Deutschland nach Patrice Bart in München, Vladimir Malakhov in Berlin, Natalia Makarowas altbekannter Version beim Hamburger Ballett und Terence Kohlers „Tempeltänzerin“ in Karlsruhe. Vielleicht findet sich ja, wenn das Ballett nur oft genug gezeigt wird, in den nächsten Jahren ein Regisseur und Choreograf, der die exotische Story à la Matthew Bourne radikal modernisiert und (endlich!) nach Bollywood verlegt, oder vielleicht versuchen weitere vorsichtige Ballettmeister, Rekonstruktion und moderne Sehgewohnheiten zu einer für das heutige Publikum perfekten Fassung zu verbinden (nachdem, wie in Dresden zu hören war, Doug Fullington mit seinen Stepanov-Notaten in Harvard angeblich an einem noch originaleren Schattenakt arbeitet).
Aaron Watkins Fassung ist ganz bestimmt nicht der Weisheit letzter Schluss, sie sieht vor allem im ersten Teil hektisch und manchmal sogar grob skizziert aus, wird dann aber nach der Pause viel dichter und schlüssiger, schöner getanzt und gemimt. In der Erzählung der Geschichte und meist auch in der Musikauswahl hält sich Watkin relativ dicht an die vieraktige Fassung von Natalia Makarowa, es gibt also anders als in der alten Kirov-Version und in Rudolf Nurejews Pariser Fassung nach dem Schattenakt noch die Hochzeit zwischen Solor und Hamsatti, in der ein Erdbeben den Tempel zerstört.
Watkin hat die vier Akte zu zwei Teilen mit insgesamt sieben Bildern zusammengefasst. Dass alle Bühnenaufbauten wie der Brahma-Tempel oder der Palast des Radscha deutlich weniger prachtvoll ausfallen als etwa in Malakhovs Wiener/Berliner Version, hat den entscheidenden Vorteil blitzschneller Umbauten – die Bilder gehen praktisch nahtlos ineinander über. Arne Walthers Bühnenbilder entstanden brav nach dem Handbuch des Ballett-Exotismus und präsentieren neben dichtem Palmenbestand vor allem wunderschöne Nacht- und Abendhimmel. Ein paar Details, die Watkin verändert hat, muten überflüssig an - so hat zum Beispiel der Radscha hier stets eine Rani an seiner Seite und Solor einen guten Freund namens Ekavir, der sich im Grand Pas des zweiten Aktes sogar tanzenderweise einmischt und Hamsatti anstelle ihres Verlobten bei einer Pirouette stützt (als wäre er der heutzutage verlorene Prinzen-Freund Benno aus den alten „Schwanensee“-Fassungen).
Choreografisch allerdings hat Watkin gegenüber der traditionellen Choreografie immer wieder Nummern und Szenen verändert, in den Ensembles nicht unbedingt zum Besseren. So ist der Tanz der Bayadèren im ersten Akt zu einem indischen Schreit- (oder besser: Stampf-)tanz geworden, samt Kathak-Glöckchen an den Füßen der Tänzerinnen und Händen in Lotusblüten-Haltung. Allerdings lassen die die Dresdner „Devadasis“ – wie mit dieser indischen Bezeichnung beruft sich Watkin immer wieder auf Petipas gedrucktes Libretto – die schlangenartige Biegbarkeit und weichen Oberkörper der indischen Tänzerinnen nicht einmal erahnen; auch die Kultur der schönen Arme wird beim Semperoperballett leider wenig gepflegt.
Die Musik dieser Szene stammt zwar noch von Ludwig Minkus, wurde aber wohl wie so manches an diesem Abend von Dirigent David Coleman neu arrangiert, jedenfalls liegen die Akzente anders als gewohnt. Der Verlobungs-Grand-Pas, normalerweise der zweite Akt, heißt bei Watkin „Das Ring-Divertissement“ (steckte man sich im alten Indien wirklich Verlobungsringe an die Finger?). Bis auf eine getragene Sänfte für Hamsatti und einen niedlichen Baby-Elefanten für Solor ist das große Defilé davor fast vollständig gestrichen, auch alle indischen Tänze.
Die Choreografie hat Watkin mal mehr, mal weniger umarrangiert, so ersetzt er zum Beispiel die vier „kleinen“ Tutu-Damen durch Herren. Solors bekannte hochfliegende Variation musste einer musikalisch wie choreografisch arg beliebigen Variante weichen, Hamsatti dreht in der Coda normale statt der spektakulären italienischen Fouettés, ansonsten folgt Dresden im Wesentlichen der tradierten Version. Wie schade, dass der Dresdner Ballettdirektor in seinem ersten Akt das übliche Spielchen aus händeringender Pantomime - wohl ist die Semperoper groß und man soll die Geschichte auch in den oberen Rängen verstehen, aber muss es derart pathetisch und übertrieben aussehen? - und dem Abspulen reiner Technik nicht wenigstens ein bisschen durchbricht, denn als reine Virtuosen können Jiří Bubeníček und die große, langbeinige Britt Juleen (Hamsatti) einfach nicht spektakulär genug glänzen. Gerade Bubeníček, einer der sensibelsten Darsteller im deutschen Ballett, steht hier als Solor noch dümmer dar als in anderen Versionen, weil seine Hinwendung zu Hamsatti nicht einmal andeutungsweise erklärt wird, ja weil er sich in Watkins Version explizit von Nikija abwendet. Wie sollen wir ihm die Trance, ja Besessenheit nach seinem Opiumtraum von ihr glauben? Vielleicht weil sie uns genauso ergreift.
Der Schattenakt übt seine magische Kraft, 24 Mädchen ziehen ihre endlosen Arabesquen-Bahn vor dem Nachthimmel (hier leuchtet kein Himalaja im Hintergrund). Aaron Watkin stellt sie auf der weiten Bühne der Semperoper so raumfüllend auf, dass mehr gar nicht hingepasst hätten. Das Corps de ballet des Semperoperballetts tanzt faszinierend exakt und auch musikalisch bestens präpariert, angeführt von drei Solistinnen (vor allem Mariane Joly steht wunderbar leicht auf der Spitze) und einer endlich entrückten Natalia Sologub. Denn die Titelheldin blieb anfangs allzu irdisch, selbst hier fehlt ihr bei aller technischen Brillanz noch manchmal die Lyrik, die fließende Eleganz und die träumerische Leichtigkeit des Port de bras, die sie vor allen anderen Bayadèren und Schatten auszeichnen sollte. Ganz zu schweigen vom Konflikt zwischen ihrer religiösen Verpflichtung und der Liebe zu Solor, der in dieser Fassung des Balletts eigentlich zu nicht erkennen ist. Aber siehe da, hier taucht zwischen den Solo-Bayadèren plötzlich Solors Variation aus dem Verlobungsbild auf, superb getanzt von Bubeníček, der von seinem Opiumtraum endlich auch dramatisch entzündet scheint. Jedenfalls agiert er danach, als sei er nicht mehr von dieser Welt - plötzlich hat das Ballett eine Spannung, die im ganzen ersten Akt fehlte.
Nach dem vierten Akt mit einem unglaublich goldenen, aber äußerst unauffälligen Goldenen Idol (Denis Veginy), mit Lotustanz, Hochzeitszeremonie und Erdbeben haben Watkin und sein komponierender Arrangeur Coleman als Apotheose einen kleinen Pas de deux für Solor und Nikija hinzugefügt, dessen Choreografie an das glückliche Zusammentreffen der Liebenden im ersten Akt anknüpft, wodurch sich dramaturgisch der Bogen schön schließt. Eine brauchbare Version des ehrwürdigen Klassikers also in einer von der Dresdner Staatskapelle prachtvoll und sorgfältig begleiteten Aufführung, die klugerweise das Juwel dieses Balletts, den Schattenakt mit seiner Auflösung von Zeit und Raum, in den Mittelpunkt stellt. Und die ansonsten wie so viele Handlungsballette brav eine Geschichte nacherzählt, anstatt ihren innersten Kern zu suchen, anstatt sie selbst zum Ritual zu überhöhen, zum „Gedicht über das Tanzen, das Erinnern und die Zeit“, wie es die amerikanische Kritikerin Arlene Croce formulierte.
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