Potenzial beim Choreografen-Nachwuchs
Short Cuts - Choreografien von Mitgliedern des TanzTheater München
„Egal was ich mache, die verreißen mich hier sowieso“ – mit solchem Fatalismus startete Hans Henning Paar letzten Herbst in seine erste Saison als Ballettchef des Münchener Gärtnerplatztheaters. Verständlich. Immerhin löste Paar nach elf Jahren den zuletzt höchst beliebten Philip Taylor an der Spitze von Münchens zweitwichtigster Tanzbühne ab. Der neue Intendant Ulrich Peters hatte den Wechsel gewünscht, unbeirrt vom Lamento der zeitgenössischen Tanzszene. Heute, nach acht Monaten an der Isar, klingt der 42-Jährige Paar schon optimistischer. „Die Kritiken bestätigen meiner Kompanie bestes Niveau. Wir geben mehr Vorstellungen als vorher, und die Kartenverkäufe laufen mittlerweile gut“, erzählt er. Er hat den ersten Sturm überstanden.
Der wehte Ende Oktober mit der Premiere von „Les Autres“, einer Kreation über den Poète maudit Jean Genet, über das Ensemble hinweg. Statt „BallettTheater München“ heißt die Truppe jetzt „TanzTheater München“, besteht aus fünf Tänzern der alten Taylormannschaft, sechs Tänzern aus Paars alter Braunschweiger Truppe (er war dort bis 2007 Ballettchef des Staatstheaters) sowie neun neuen Tänzern. Die Kritiken zu Genets getanzter Biografie waren geteilt, meist nett und unaufgeregt. Was bedenklicher war: „Mit dieser ersten Produktion gab es zunächst einen Einbruch der Zuschauerzahlen“, so Paar. „‚Les Autres’ war nun mal ein spezielles, etwas dunkles Stück. Es war mir aber wichtig, von Anfang an zu zeigen, dass es mir nicht um gefälliges Bedientheater geht.“
Die Debatte, ob dem Gärtnerplatz jetzt der Tanz verloren gehe, ebbte angesichts des unauffälligen Debuts denn nur langsam ab. Verkomme das Vorzeigeensemble jetzt zur Operettenstaffage, spekulierte man, sei Paar wirklich modern genug? Tatsache sei, so der gebürtige Kasseler, dass „die Tänzer heute nicht öfter in Operetten auftreten als zuvor.“ In der aktuellen Spielzeit gibt es für sie zwar noch fast so viele Einsätze im Musiktheater wie reine Tanzabende. Doch das liegt am dünnen Anfangsrepertoire; von Taylor wurde nichts übernommen. Schon in der Spielzeit 2008/2009 soll das Verhältnis lauten: ein Drittel Operette zu zwei Drittel reinem Tanz, bei insgesamt 74 Vorstellungen. „Ich komme aus einem Haus, wo wir bis zu 80 Ballettabende im Jahr hatten“, sagt Paar. „Halbe Sachen interessieren mich nicht.“
Fest steht aber auch, dass der neue Ballettchef mehr erzählen will als sein Vorgänger. Wo Taylor am dreiteiligen, modernen Abend festhielt, setzt Paar entschieden auf zeitgenössische, abendfüllende Handlungs-Tanztheater. „Man fragt mich hier oft nach meiner Körpersprache“, erklärt er, „doch bei mir steht die Dramaturgie an erster Stelle. Ich habe erst ein Thema oder eine Musik und suche dann erst die Sprache, die der Idee entspricht. Dabei lasse ich alles zu, was mir dient. Das kann dynamisch aussehen oder archaisch, oder mit Spitzenschuhen funktionieren. Bei mir gibt es nichts, was es nicht gibt.“ Die nächste Premiere, eine Neufassung seiner Kreation „Romeo und Julia“, hat er gleichfalls wegen der erzählerischen Qualitäten des Shakespeare-Stoffs gewählt. Mehr als die Frage, ob das Ganze denn jetzt nach Mats Ek oder Will Forsythe aussieht, bewegt ihn auch hier die Zeichnung der Charaktere. „Bei mir sind Benvolio, Lorenzo und alle anderen Hauptrollen, nicht nur Charakterfiguren“, sagt er. „Vor allem Lady Capulet bietet sich für eine detaillierte Zeichnung an. In ihrer Tochter wiederholt sich doch ihre eigene Tragödie: die Zwangsehe mit einem älteren Mann. Und sie erkennt das nicht!“
Noch Spannenderes bringt jedoch die Zukunft. Schon in der nächsten Spielzeit möchte Paar seine eigene Interpretation zu E. T. A. Hoffmanns „Sandmann“ präsentieren. Eine „Copy Coppelia“ schwebt ihm vor, „die weniger eine Liebesgeschichte auslöst, als vielmehr Faszination am Künstlichen. In Zeiten von ‚Matrix’ und politischen Scheinwelten ein hoch aktuelles Thema.“ Er weiß: „Dabei kann man sich furchtbar verheben. Aber den Versuch ist es wert.“ Vielleicht klappt es. Hans Henning Paars Vorteil ist ja: Er ist kein Fremder in München. Er schloss mit 18 als Student der Heinz-Bosl-Stiftung sein Tanzstudium ab, debütierte in der Schulmatinee mit einer ersten Eigenkreation. „Die Zuschauer des Gärtnerplatztheaters sind sehr offen“, weiß er. „Bis auf ein paar standhafte Verweigerer kamen doch viele in die neuen Vorstellungen, um sich das Ganze einmal anzusehen. Den meisten gefällt es, einige sind sogar froh über den Wechsel.“ Der Mensch gehe eben ins Theater, um Geschichten zu sehen.
Premiere am Gärtnerplatztheater München: Romeo und Julia – 12. Juni 2008
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