Kochender Saal
Fotoblog von Dieter Hartwig
„Ars melancholiae“ von Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola im Radialsystem
Ein richtig heuriger Hase ist Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola ja nicht. Der 42-jährige Baske, als Musiker ebenso ausgebildet wie als Tänzer, ist nicht nur seit bereits zwölf Jahren eine der Stützen des Ensembles von Sasha Waltz. Er hat auch schon konkrete choreografische Erfahrung; vor allem sein Tanzstück „d’avant“ aus dem Jahre 2002 gilt unter Liebhabern als mehr denn nur eine Talentprobe. Aber es wäre wohl allzu blauäugig, wenn man von Sasha Waltz verlangte, sie solle ihre – von der BASF finanziell unterstützte – Programmreihe „Choreografen der Zukunft“, die es sich zum (möglicherweise allzu hoch gesteckten) Ziel gesetzt hat, „Choreografen auf dem Weg in die internationale Spitze“ zu begleiten, mit einem völlig unbekannten Anfänger beginnen.
Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola macht es sich nicht leicht. Seine Choreografie „Ars melancholiae“, als erstes Stück der von Sasha Waltz geplanten Reihe im Berliner Radialsystem uraufgeführt, profitiert durchaus von des Autors doppelter Ausbildung; sie ist ebenso sehr Musiktheater wie Tanzstück. Ziemlich genau anderthalb Stunden lang singen und tanzen sich fünf – von Beate Borrmann modisch schwarz gekleidete – Darsteller (die Damen Cora Frost und Mata Sakka, die Herren Luc Dunberry und Antonio Ruz sowie der Choreograf selbst) durch einen tränenreichen Ozean der lyrischen Trauer: die Melancholie als tiefdunkles Kunststück aus Tönen und Bewegungen. Mit „Lacrime“ ist der Elisabethaner John Dowland nicht nur der erste jener Liedspender, die das Programmheft mit Charles Baudelaire, Rainer Maria Rilke, William Shakespeare und Janet Frame benennt. Er gibt auch die Klangfarbe vor, welche die Kompositionen von Kruz Diaz de Garaio Esnaola neunzig Minuten lang nachzuschaffen suchen: ein kleines, feines Seminar in alter Musik.
In ihren neunzig Minuten schafft die Choreografie von „Ars melancholiae“ manches schöne Bild. Das schönste bietet sich dem Zuschauer schon bald nach dem Beginn, wenn der Autor selbst die weiße Plastikplane von einem Hügel im Zentrum der winterlich weißen Bühne von Thomas Schenk räumt. Sichtbar wird ein großer Tisch, und auf diesem Tisch, an dessen Schmalseite Kruz Dias de Garaio Esnaola Platz nimmt, sind die halbnackten Körper dreier Mitspieler arrangiert wie für ein barbarisches Nachtmahl, das dann freilich nicht stattfindet. Statt dessen winden sich die Körper zuerst umeinander und dann vom Tisch – wobei eine Luke in der Tischplatte, durch die sich die Darsteller, auch später immer wieder hinab- und hinaufhangeln, keine kleine Rolle spielt. Auch die Schlussszene, für die die Darsteller den Tisch so weit in die Höhe geschraubt haben, dass ihr Anführer, an den Füßen aufgehängt, unter ihn passt, hat ihrer eindringlichen Qualitäten: diesmal eher brutale als lyrisch trauernde.
Mindestens in den sich wiederholenden Szenen des Hinauf- und Hinabhangelns durch die Luke in der Tischplatte fühlt man sich an die Anfänge von Sasha Waltz erinnert, ein wenig an den im vergangenen Jahr wieder aufgenommenen ersten, stärker noch an den im Schlafzimmer spielenden dritten Teil „All Ways Six Steps“ ihrer „Travelogue“-Trilogie. Von einer Abhängigkeit aber kann keine Rede sein. Kruz Diaz de Garaio Esnaola schreibt einen sehr eigenen Stil, der sich vor allem atmosphärisch stark von dem seiner Chefin abhebt. Doch ob dieser Stil reicht, seinen Schöpfer „in die internationale Spitze“ zu bringen, wird man nach der „Kunst der Melancholie“ bezweifeln dürfen. Neben schönen Bildern und witzigen Passagen gibt es auch weite Durststrecken, die mindestens den Autor dieser Zeilen ausgesprochen anödeten. Dem Stück würde eine intensive Überarbeitung – sprich Kürzung – durchaus gut tun. Ob sich damit allerdings ein prinzipieller Mangel beseitigen ließe, den eines der vom Programmheft zitierten Rilke-Gedichte beklagt, ist fraglich: „Welt ist draußen, Welt ist nicht zu fassen“.
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