Zwischen Dance-Minimalismus, postpostmoderner Gruppendynamik und Sprach-Tanz-Performance

Bilanz der diesjährigen Tanzwerkstatt Europa

München, 18/08/2008

Hose schlabberweit oder knalleng, Rock mini oder lang, Schuh spitz oder bärentatzig – früher hat man sich wohl oder übel solchen saisonalen Mode-Diktaten unterworfen. Heute herrscht gottlob ein Pluralismus. Und genau da scheint nun auch der zeitgenössische Tanz angekommen: Münchens Tanzwerkstatt Europa (TWE), wenn auch mit bescheidenem Budget von 250 000 Euro ein eher kleines und mit seinen Workshops ja auch vor allem ein „tanzwerkendes“ Festival, präsentierte einen Respekt heischenden Ausschnitt aus der Stil-Palette zwischen ausgefeiltem Dance-Minimalismus, postpostmoderner Gruppendynamik und Sprach-Tanz-Performance.

Nicht alles war zum Jubeln. Aber darauf kann ein vernünftiger Veranstalter, wie Walter Heun einer ist, auch gar nicht abzielen. Der zeitgenössische Tanz ist seinem Wesen nach eine „unfertige“ Kunst, ständig auf der Suche nach sich selbst. Was die vierzehn Choreografen einen miterleben ließen , man weiß es zu schätzen, ist das Ringen um eine erste eigene Handschrift, um Selbstvergewisserung und Vertiefung, um, wie utopisch auch immer, völlig neue Wege – und das ständig zwischen Skylla und Charybdis. Denn es ist ja eigentlich schon alles dagewesen: vom kindfröhlich armschlenkernden Gret-Palucca-Hüpfen (Isabelle Schad) und der weiblich brüstestolzen Monte-Vérita-Freikörperkultur (Alice Chauchat) aus dem jungen 20. Jahrhundert bis zu den mittels (Kontakt-)Improvisationen sich quasi selbst in den Raum bauenden Körper-Architekturen der US-Postmoderne (Jeremy Nelson) aus den 1970er/80er Jahren. Das ungeheuer Schwierige für die heutigen Tanzmacher ist, das schon Dagewesene durch ein ganz eigenes persönliches Formgefühl neu interessant zu machen. Persönlichkeit! Das wichtigste Attribut des freien Tanzes! Der junge Berliner Norbert Pape ist auf dem besten Weg, es sich zu erobern. Der Russe Oleg Soulimenko, ein sprechfexender Bewegungs-Komiker, hat eine hinreißende Menge davon. Auch der etwas zerfasernde Beitrag von Münchens Katja Wachter berührte letztlich doch durch das absolute Einssein von Form und ihrer Ausdrucksintensität.

Zum Abschluss gab's eine lange Nacht mit drei Duetten von Jonathan Burrows und Matteo Fargion: der Ex-Royal-Ballet-Tänzer und sein Musiker-Kompagnon, im Grunde nur auf den Spuren von Marcel Marceau und Schwitters. Aber eben doch nochmal ganz anders. Sie geben sich gegenseitig Klang-Kommandos, stapfen wie mit Bleifüßen in gemeinsamen oder auseinander strebenden Kreisen. Zusammen sprechrasen sie durch das tanztechnische Lehrervokabular „step, jump, stretch, stretch, stop, stop, step, jump“. Fargion schmettert italienische Lieder, Burrows armfuchtelt dazu wie eine übergeschnappte Marionette. Zwei Beckett-Clowns, ganz Kind im Manne, die sich mit Nonensens-Spielen sehr ernsthaft die Zeit vertreiben, weil Godot ja doch nicht kommt. Dieses Herren-Duo, mit allen Vorzügen des reifen mittleren Alters, wie auch der von den Workshop-Pädagogen Wachter, Soulimenko, Pape, Nelson und dem hier allerdings blassen Thomas Hauert bestrittene Abend „Teacher's Time“ bestätigte, dass der zeitgenössische Tanz eigentlich nur dann seine volle künstlerische Wirkkraft entfaltet, wenn er von seinem Schöpfer selbst getanzt wird.

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