Who dunnit?
Drei Uraufführungen – „True Crime“ an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf
Die Deutsche Oper am Rhein gedenkt des Todestages ihres ehemaligen Ballettdirektors Erich Walter
Mit knapp einjähriger Verspätung erinnert die Deutsche Oper am Rhein an Erich Walter, der, zu den Großen des Ballettjahrgangs 1927 gehörig, am 30. Dezember 2007 achtzig Jahre alt geworden wäre, der aber bereits zehn Jahre nach John Cranko im November 1983 gestorben ist (wir haben ihn zu seinem Jubiläumsgeburtstag im tanznetz als eine der Gründerpersönlichkeiten der deutschen Nachkriegs-Ballettszene gebührend gewürdigt). Nicht etwa mit einer glanzvollen Wiederaufnahme-Premiere eines seiner Meisterwerke – wie es Stuttgart so erfolgreich anlässlich des Cranko-Geburtstags vorgeführt hat –, sondern mit einer halbstündigen Hommage vor einer Abo-Vorstellung der kontroversen „Giselle“-Einstudierung von Youri Vámos, dem Walterschen Nachlassverwalter.
Es wurde ein etwas zwiespältiger Abend, der die Erinnerungen an die glanzvollen Düsseldorf-Duisburger Walter-Jahre 1964 bis 1983 (und die davorliegenden elf Wuppertaler Walter-Jahre AD (Ante Domina) 1953 bis 1964 weckte – Erinnerungen an die Tänzer, die Mitarbeiter, das Publikum und nicht zuletzt die mehr oder weniger lieben Kritikerkollegen aus Düsseldorf, Köln, Essen und Wuppertal, von denen die meisten inzwischen bereits das Zeitliche gesegnet haben. Gerade dass man den oder die eine oder andere/n aus jenen Tagen wieder traf: Tilly Söffing, die große Tanzaktrice, Elke Holle mit ihrem Mann, dem Düsseldorfer Ballettchronisten Heinrich Riemenschneider, die unverwüstliche Walter-Paladinin Berthild Thormoehlen aus Bad Kreuznach oder Falco Kapuste vom Fähnlein der getreuen Walter-Aufrechten. Machen wir uns nichts vor, die schönen Ballett-Tage von Wuppertal-Düsseldorf-Duisburg sind vergangen, und wir seufzen mit der weiland Prinzessin Elisabeth von Valois am Anfang von Schillers „Don Carlos“: „Die schönen Tage von Aranjuez …“.
Etwas müde klang denn auch das Grußwort des amtierenden Düsseldorfer Generalintendanten Tobias Richter, der, Sohn des berühmten Münchner Organisten und Kantors Karl Richter, damals, als Walter seine Karriere in Wuppertal begann, noch in einer Münchner Kita spielte – und von dem man ohnehin ohne Mikrofonverstärkung nur einen Bruchteil verstand. Umso lebendiger dann die Filmdokumentation, die Wolfgang Enck aus dem Oeuvre von Walter collagiert hatte, und die noch einmal Walters hoch differenzierte Musikalität, seine architektonische Konstruktionskraft und, in harmonischer Zusammenarbeit mit seinem Freund und Lebenspartner Heinrich Wendel als Raum- und Beleuchtungsdesigner, die markanten Raumchoreografien heraufbeschwor, die das unverwechselbare Stilmerkmal ihrer gemeinsamen Produktionen war: „Orfeo“ (Monteverdi), „Der Tod und das Mädchen“ (Schubert), „Symphonie fantastique“ (Berlioz) und „Sacre du printemps“ (Strawinsky).
Vollends theatralisch-live wurde es dann mit dem aus dem Jahr 1975 stammenden „Hommage à Albinoni“ zu dessen Adagio für Orgel und Streicher, ein Solo, von Walter für seinen damaligen Topstar Paolo Bortoluzzi kreiert und für diese Gelegenheit von Wolfgang Enck mit geradezu exorzistischer Magie zu neuem Leben erweckt. Ich musste an Fokines berühmten „Sterbenden Schwan“ für Anna Pawlowa denken, eins der Gipfelwerke der Ballett-Neoromantik. Doch Walters Choreografie ist ganz anderes strukturiert – eine abstrakte Konstruktion aus Linien, Kreisen und bizarren Formen wie von Kandinsky, unsichtbar aus den Tönen sublimiert und in den Raum projiziert.
Man hat den Eindruck, dass der Tänzer die Töne und Klänge aus der Luft in einen anderen, eben tänzerischen Aggregatzustand umwandelt – Tanz, nicht aus Schritten und Posen arrangiert, sondern als lebendige Raumplastik verwirklicht. Von dem jungen tschechischen Tänzer Michal Matys mit einer Bannkraft sondergleichen realisiert, erlebte man das Entstehen eines Tanzes, der aus der Musik geboren schien: eine Hommage via Erich Walter an eine der kreativsten Persönlichkeiten der bildkünstlerischen Moderne. Gerne sähe man in diesem jungen Pan Matys nicht nur einen legitimen Erben Bortoluzzis, sondern einen Tänzer, der aus der großen tschechischen Tänzer-Dynastie der Miroslav Kura und Vlastimil Harapes kommt – und es ist gut zu wissen, dass er von Martin Schläpfer, dem designierten Düsseldorfer Vámos-Nachfolger übernommen wird, und der vielleicht noch ganz andere Entwicklungsmöglichkeiten in ihm entdeckt.
Und dann also nach der Pause die Vámos'sche „Giselle“ aus dem Vorjahr – unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg spielend, wie nach einem fiktiven Roman von Robert Musil, „Die Verwirrungen der Jungfer Giselle“, mit Albrecht als feschem Oberleutnant, Hilarion als Anführer der jungen Rekruten, Myrtha als Mutter von Giselle, ihrem toten, im Krieg gefallenen Vater, sogar Moyna hat einen Verlobten, und der zweite Akt spielt in einem Feldlazarett: Vámos also als Trittbrettfahrer der berühmten Stockholmer „Giselle“-Produktion von Mats Ek – und genauso unmusikalisch wie diese. Dafür aber mit einem Programmheft, in dem die Artikel doppelt abgedruckt sind – ohne dass der Transfer der Handlung irgendwie begründet würde. Was Erich Walter zu diesem Willkürakt sagen würde, kann man sich leicht vorstellen. Was in den Hirnen der Tänzer vorgeht, die diesen Unfug auszuführen haben, würde man gern wissen. Dass sie es mit professionellem Stoizismus tun, ehrt sie – und sie sind ja auch wirklich eine gut anzusehende, ordentlich trainierte Truppe, mit einer bezaubernden Japanerin, Kaori Morito, als Giselle. Noch neun Monate Vámos in Düsseldorf-Duisburg also – mit der Androhung eines finalen „Spartacus“-Knüllers. Immerhin steht da die Verheißung: Martin Schläpfer hinter den Kulissen!
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