„Chalk“ von Andrey Kaydanovsky, Tanz: Elisabeth Vincenti, Miquel Martinez Pedro, Clara Nougué-Cazenave, Orazio Di Bella

Who dunnit?

Drei Uraufführungen – „True Crime“ an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf

Mord und Totschlag: Erst wird Cluedo gespielt, am Ende trifft man auf einen dysfunktionalen Truman Capote. Und zwischendurch wird angesichts möglicher Verbrechen ganz bewusst nicht getanzt. Im Ballett?! Ein Affront?

Düsseldorf, 21/04/2024

Das gibt’s nicht alle Tage: Ein mehrteiliger Ballettabend, dessen Arbeiten allesamt Uraufführungen sind. Das Ballett am Rhein in Düsseldorf hat das für einen Kniff genutzt, der dramaturgisch gesehen den Abend hübsch zusammenhält, indem die drei Arbeiten optische Verbindungen aufweisen. Eine inhaltliche Inbeziehungsetzung der einzelnen Arbeiten zueinander bedeutet das zwar nicht, aber das tut der Sache keinen Abbruch. Gelesen werden sollte ohnehin jede Arbeit für sich.

Mit „True Crime“ hat sich das Haus das wohl dankbarste Begleitthema zum entspannten Bügeln erwählt und die Frage in den Raum gestellt, was so viele Menschen an „echten Verbrechen“ im Gegensatz zu fiktionalen fasziniert. Im Englischen gibt es die Wendung „the attraction of repulsion“: Das Entsetzliche hat seine ganz eigene Anziehungskraft. 

Alle sind verdächtig

Anziehend ist in der ersten Arbeit, „Chalk“ von Andrey Kaydanovskiy, der auf den Bühnenboden aufgezeichnete Kreideumriss. Tatort, Verbrechen, aber keine Leiche? Fünf Tänzerinnen und Tänzer rätseln in einer Art abgedunkeltem Wohnzimmer mit Ottomane und Stehleuchte (Bühne für alle drei Stücke: Sebastian Hannak) um eine Frage, die sich scheinbar weniger darum dreht, wer der Mörder (oder die Mörderin) ist, sondern wer beziehungsweise wo die Leiche ist. Das tun sie in einem gebrochenen, kantigen und fragmentarischen Vokabular zeitgenössischen Balletts, dessen Wirkung zum einen Entfremdung zeigt, gleichzeitig auch befremdlich wirkt. Alle Anwesenden wirken verstört, so verdächtig wie verdächtigend. Die geraden weißen Linien auf ihren Kostümen von Bregje van Balen verbinden sie direkt mit der Skizze am Boden, jede und jeden Einzelnen. Niemand wäscht irgendwelche Hände in Unschuld.

Tatortreinigerin mit Taschenlampe

In vier Kapiteln, die laut Programmheft aufeinander aufbauen und eine Art Handlung skizzieren, kommt es zu gegenseitigen Beschuldigungen, auch die Haushälterin (oder Tatortreinigerin?) bleibt davon nicht verschont: Elisabeth Vincenti in Gummihandschuhen versucht zwar, mittels einer Taschenlampe Licht in die Sache zu bringen, aber der Tatort entpuppt sich als ein instabiler. Aus den Boxen springen an jeder Stelle im Saal Geräusche, Dinge fallen um, Glas zerbirst. Hier ist noch immer einiges im Gange, aber nichts lässt sich zuordnen. Die beeindruckend dreidimensionale Räumlichkeit des Klangs führt in die Irre. Ein akustischer Todeskampf, auf der Bühne im Hintergrund tänzerisch ausgetragen, findet im Vordergrund sein Pendant. Nur ist hier alles anders. In einer Toneinspielung lassen sich erst die Fragmente eines Verhörs ausmachen, dann ein Zeugenbericht. Von „very dim, vague memories“ ist da die Rede. Die Erinnerung lügt. So lässt sich kein Verbrechen rekonstruieren.

Alles bleibt in der Schwebe

Im Lichtwechsel wird plötzlich deutlich, dass das Wohnzimmer mit seinen Wänden über der Szenerie schwebt, losgelöst von jeder Bodenhaftung. Alles ist in der Schwebe. Dieser Raum im Raum hebt das Ganze auf eine Art Metaebene, als handelte es sich um ein Spiel. Das Brettspiel Cluedo wurde aus gutem Grund so ein Erfolg. 

Die vier Kapitel lassen sich auch als Variationen ein und derselben Sache lesen, denn die Übergänge zwischen ihnen sind durch Töne gestaltet, die an ein rückwärts laufendes Tonband erinnern. Alles auf Anfang, immer wieder neu, aber trotzdem ohne Lösung. 

Das letzte Kapitel erscheint wie ein Traum, getaucht in Reflexionen von Wasser und unterspült von entsprechend plätschernden Sounds. Bis sich die hintere Wand hebt und dahinter zum einen ein aus dem Schnürboden baumelnder Toter erscheint, zum anderen eine Phalanx stumm im Hintergrund stehender Figuren in überweiten, bodenlangen braunen Kleidern mit weißen Rokoko-Perücken. Stumm schauen sie mit blass geschminkten Gesichtern auf die Szene, die am Ende zwar (noch) eine Leiche zeigt, aber klar ist damit trotzdem gar nichts. 

Die anonyme Masse schaut zu

Zwar ließe sich die fremde Instanz im Hintergrund zusätzlich lesen, es sind aber die Figuren, die später durch die zweite Arbeit geistern. Eine treffendere Formulierung für ihre Art der Fortbewegung ließe sich schlecht finden. Hege Haagenrud hat mit „The Bystanders“ eine absurde Szenerie entworfen, in der, das darf so auf den Punkt gebracht werden, einfach nicht getanzt wird. Die überdimensionierten Kleider (wie auch die Perücken) machen alle gleich, eine anonyme Masse, wohl eben genau zu jenen „Bystanders“ aus dem Titel. Eine weibliche Stimme lädt zu Beginn dazu ein, sich auf das Szenario einzulassen und dabei die Position „des Opfers“ einzunehmen. Denn, so die Erklärung, unter der notwendigen Achtsamkeit sei man „nicht nur paranoid, sondern jederzeit auf alles gefasst“. 

Nichts scheint Sinn zu ergeben

Unter diesem widersprüchlichen Tenor steht die ganze Arbeit, die beim Publikum höfliche Ablehnung geerntet hat. Diese puppenhaften Gestalten scheinen langsam fast über den Boden zu schweben. Tatsächliche Bewegungen gibt es nur oberhalb der Hüfte. Und diese sind stark gestisch, die meisten von ihnen ganz konkret lesbar. Damit illustrieren die Tänzer*innen eingespielte Texte, die in ihrer Zusammenstellung genauso schwierig lesbar sind. Auf den Mittschnitt eines Notrufs folgt ASMR-Geflüster, das wiederum von einem Makeup-Tutorial abgelöst wird. Nichts scheint Sinn zu ergeben. Die Bewegungen, die Haagenrud gefunden hat, übersetzen die meisten Formulierungen aus den Texten direkt, allerdings in exaltierter, übertriebener Geste. Damit wirken die Figuren wie außer Kontrolle geratene Animatronics, mehr oder minder verstörende, elektronisch animierte Figuren in Vergnügungsparks. Mehr unschöner Traum als Verbrechen. Vielleicht ist das ein bisschen Beckett, wenn in einer Szene schnell wechselnde Spots einzelne parallele Szenen sichtbar machen und damit Anfang und Ende sprachlicher Äußerungen steuern. Beckett hat das mit „Play“ unübertrefflich gemacht.

Nicht lesbare Bruchstücke

Nach und nach schälen sich die Tänzer*innen aus den weiten Kleidern, für die auch Bregje van Balen verantwortlich ist. Für die dritte Arbeit des Abends hat sie sich für hier fast vordergründig wirkendes Blutrot entschieden. Die „Bystanders“ allerdings wirken ohne ihre Kleider, in hellen kurzen Trikots, fast nackt, zerbrechlich. Und eine Art großer schwarzer Käfig spielt auch noch eine Rolle. Das alles ist eine Abfolge von nicht lesbaren Bruchstücken, die sich bis zum Schluss nicht aneinanderreihen wollen, gleichzeitig aber abgesehen von einer anfänglichen Merkwürdigkeit keine Faszination entwickeln. Hier wird das Verschlossene, das sich nicht erklären will, schnell uninteressant, weil ihm eine Entwicklung fehlt. Die Bilder sind schön anzusehen, sind aber nur die Variation eines einzigen. Wohlwollend meinte eine Besucherin abschließend: „Is‘ mal was Neues, ni?“ Immerhin.

Zurückhaltend neoklassisch

So experimentell sich Haagenrud aus dem Fenster gelehnt hat, soweit bleibt Demis Volpi mit seinem neoklassischen Ansatz en pointe eher zurückhaltend. Hannak hat für „Non-Fiction Études“ den Pianisten Aleksandr Ivanov mitsamt Konzertflügel in den Käfig gesperrt, wo dieser auf der riesigen Bühne akustisch etwas verloren Teile aus Rachmaninows „Études-tableaux“ mit nicht zu überhörender Verve in die Tasten drückt. Sein persönliches „True Crime“ sucht Volpi bei Truman Capote, dem „Erfinder“ des Genres, wenn man so will. Dessen non-fiction novel „Kaltblütig“ (1965) bedeutete für den Autor den endgültigen Durchbruch. Laut Programmheft folgt „Non-Fiction Études“ locker dem Leben Capotes, mit schlaglichtartigen Ausschnitten. 

Kleine emotionale Ausbrüche

Das Ergebnis ist die am stärksten abstrakt gestaltete Arbeit des Abends, die ihre ausgezeichneten 13 Tänzer allerdings nur stellenweise wirklich fordert. So gesehen allerdings löst Volpi die Etüden aus dem Titel durchaus ein. Die vordergründig geschmeidige Gefälligkeit des Vokabulars erlaubt immer wieder kleine Ausbrüche, die einem ganz anderen Register entstammen. Da platzen urplötzlich ruckartige Drehungen und Zuckungen als kurzes Aufflackern von Emotionen in sonst harmonische Abläufe. Ein schnodderiges Abwischen der Nase mit dem Ärmel wirft die Frage auf, ob hier, in den Bewegungen, doch etwas liegt, das Fiktion sein und damit eine gesonderte Ebene darstellen könnte. Welche Aspekte sich dabei mit dem Leben Capotes und möglicherweise mit dessen Verbrechergeschichte verbinden, bleibt offen. 

Die Begeisterung für „True Crime“ scheint demzufolge nur so lange anzudauern, solange das Rätsel um die Zusammenhänge besteht. Aufklärung heißt da wohl Ankommen in der banalen Realität. Die Verklausulierung in der Kunst hingegen ist nach wie vor für viele ein „True Crime“.

 

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