Christoph Willibald Glucks „Orpheus und Eurydike“

... als Koproduktion der Staatsoper und des Stuttgarter Balletts

oe
Stuttgart, 27/06/2009

Von wegen „Edle Einfalt und stille Größe“! Das Winckelmannsche Klassizitätsmotto, durch die Jahrhunderte gültig auch für das Glucksche Opernreformwerk, erscheint angesichts der Stuttgarter Neuinszenierung von Glucks „Orpheus und Eurydike“ fehl am Platze. Man fragt sich, was wohl Wieland Wagner dazu gesagt hätte, der hier zusammen mit Ferdinand Leitner 1955 (einen Monat nach seinem Stuttgarter „Rheingold“-Debüt) Glucks ‚azione teatrale per musica‘ auf die Bühne gebracht hat. Aber die Koproduktion der Stuttgarter Staatsoper und des Stuttgarter Balletts gibt ja auch gar nicht vor, dass es sich um die Wiener Uraufführungsversion von 1762 handelt, sondern um Glucks „Orphée et Euridice“-Adaption als ‚Tragédie Opéra en trois actes‘ von 1774 für die Pariser Salle des Tuileries, aufgebläht zur großen Ballettoper.

Oper plus Ballett, das ergibt nach heutigem Verständnis eine typische Crossover-Produktion als Grenzüberschreitung zwischen den Gattungen. Die wird im Programmheft ebenso intelligent wie ausführlich begründet, und dessen Texte dürften vermutlich das Dauerhafteste sein, was diesen Zweieinhalb-Stunden-Abend (Pipers „Enzyklopädie des Musiktheaters“: Aufführungsdauer ca. 1 Std. 30 Min.) überlebt. Denn von „Einfalt“, „edler“ gar, kann bei diesem theatralischen Spektakel im modernistischen Schlabberlook von Christian Schmidt und Emma Ryott ebenso wenig die Rede sein wie von „stiller Größe“ – dafür sorgt schon die aktionistische Beteiligung der von Christian Spuck befehligten Chor- und Tänzerheerscharen, dem inszenatorischen Autor dieses Projekts und seinem dramaturgischen Komplizen Sergio Morabito.

Und so haben wir es in Stuttgart mit einem tenoralen Titelhelden (dem koloraturversierten Luciano Botelho) und Christina Landshamer als Marilyn-Monroe-hafte L‘Amour wie aus Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ zu tun, sowie mit Alla Kravchuk und Catriona Smith als Eurydike-Zwillingen. Im Übrigen darf man herumrätseln, was für eine Funktion die vier Solopaare von Alicia Amatriain, Oihane Herrero, Laura O’Malley/Magdalena Dziegielewska und Rachele Buriassi nebst Nikolay Godunov, Roland Havlica, William Moore und Damiano Pettenella haben, während das Lustknaben-Quintett von Alexis Oliveira, Dimitri Magitov, Tomas Danhel, Brent Parolin und Mikhail Soloviev seinen anmacherischen Auftrag perfekt erfüllt – zu schweigen von den vier Corps-de-ballet-Paaren nebst zusätzlichen Gespielinnen sowie Choristinnen und Choristen, Tänzerinnen und Tänzer im geschlechtsübergreifenden Techtelmechtel – elektrisierend stimuliert von Nicholas Kok und seinen Staatsorchestralen.

Soviel zur „edlen Einfalt und stillen Größe“, die Stuttgart ganz zum Entzücken des Publikums mit der Vielfalt des Bühnengeschehens kontrapunktiert. Puristen der alten Gluck-Schule, erzogen im Hellerau-Geiste der Appia und Dalcroze, zelebrieren danach zu Hause per DVD lieber ihr Memorial für die Wuppertaler Pina Bausch-Variante.

Kommentare

Noch keine Beiträge