Diaghilew hier, Diaghilew dort

Versuch einer Spielzeit-Bilanz

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Stuttgart, 19/08/2009

Weltweit war's DIE Diaghilew-Spielzeit! Dutzende von Kompanien rund um den Globus, die sich bemüßigt fühlten, an die Gründung der Ballets Russes vor hundert Jahren in Paris zu erinnern. Am kompaktesten geschah das in Hamburg, bei John Neumeier, in diversen Vorstellungen mit Werken aus dem Diaghilew-Repertoire – teils hausgemacht, teils in Übernahme der Originalchoreografien (oder was man dafür hält), teils mittels Gastspiel des Ballet de Lorraine aus Nancy, dann mit Neumeiers neu choreografiertem „Pavillon d‘Armide“ samt „Sacre du printemps“ in der wieder belebten Nijinsky-Choreografie und Balanchines „Verlorenem Sohn“ und der gloriosen Ausstellung „Tanz der Farben – Nijinskys Auge und die Abstraktion“, die vielleicht überhaupt das Hauptereignis der Spielzeit war, weil sie eine neue Bewertung des choreografischen und zeichnerischen Oeuvres von Nijinsky einleitete.

Man kann diese Hamburger Nijinsky-Hommage auch als Dank Neumeiers für die abermalige Verleihung des Deutschen Tanzpreises für seine Lebensleistung bezeichnen. Auch das gerade zwanzig Jahre alt gewordene Bayerische Staatsballett feierte Diaghilew mit einer Premiere, deren kostbarste Repertoire-Novität die Nijinskaschen „Les Biches“ waren – und schließlich kann man auch die Uraufführung von Terence Kohlers „Once Upon an Ever After“ mit seiner frechen Zitaten-Collage aus den Klassikern des Repertoires als eine Art Fortsetzung von Diaghilews Cocktail-Periode sehen – und die Uraufführung von Jiří Kyliáns ungemein ambitionierten „Zugvögeln“ mit ihrem experimentellen Mixed-Media Konzept durchaus der Linie von Diaghilews Forderung nach „Étonnez-moi!“ zurechnen (im Gefolge der Massineschen „Parade“).

Das Staatsballett Berlin scheint das Jubiläum glatt verschlafen zu haben (und das in Berlin, dem ersten Gastspielort der Ballets Russes nach ihrem Debüt an der Seine) und hat nun sozusagen entschuldigend angekündigt, wenigstens in der Eröffnungsvorstellung der neuen Saison seine „Reverenz“ an die Diaghilew-Truppe nachholen zu wollen. Eine Frage der Dramaturgie, doch mit der Dramaturgie ist‘s bei der tänzerisch glänzenden Malakhov-Kompanie nicht weit her – siehe die jüngsten Neuzugänge zu ihrem Sammelsuriums-Repertoire von Bigonzetti, Patrice Bart und Preljocaj – sämtlich Eintagsfliegen mit wenig Überlebenschancen.

Wirkliche Höhepunkte andernorts waren rar. Dresden immerhin brachte eine solide „Bayadère“ von Aaron S. Watkin heraus und Mainz zelebrierte quasi in einem Staatsakt den Abschied nach zehnjähriger örtlicher Tätigkeit von Martin Schläpfer, der zur nächsten Spielzeit mit fast seinem ganzen Ensemble an die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf-Duisburg übersiedelt. Das kann spannend werden! Dort verabschiedete sich Youri Vámos und ließ sich noch einmal von seinen Fans feiern. Weitere Abschiede gab‘s in Eisenach (Tomasz Kajdanski), Osnabrück (Marco Santi), Dessau (Gregor Seyffert) und Ulm (Andris Plucis) – Neuanfänge, den Berichten zufolge durchaus erfolgreich, in Nürnberg (Goyo Montero) und Essen (Ben van Cauwenbergh).

Sehr erfolgreich ging‘s auch in Karlsruhe weiter – ständig volle Häuser und mit einer „Fille mal gardée“, so putzmunter, als hätte Ashton seine Version eigens für die Birgit-Keil-Truppe geschaffen. Das zweite Programm, bereits etwas lädiert durch die Trennung von Terence Kohler, verkündete großspurig „Tanz – Raum – Licht“, was sich hauptsächlich auf rosalies buntscheckig glitzerndes Dekor bezog. Ihr bizarrer Einfall, „Sacre du printemps“ in lauter Einkaufswagen wie von Lidl zu verstauen, vom Choreografen David Bombana markengerecht aufgegriffen, wäre noch stimmiger gewesen, wenn sich Andrew Lloyd Webber entschlossen hätte, Strawinskys Partitur für den Pop-Gebrauch umzuinstrumentieren, etwa à la Duke Ellingtons „Nutcracker-Suite“.

Ein Problemfall bleibt Wiesbaden, wo das Publikum sich durchaus nicht an Stephan Thoss gewöhnen will und in Scharen die Vorstellungen meidet, selbst wenn er den Leuten mit seiner „Schwanensee“-Version einzureden versucht, dass das doch ein klassisches Ballett sei. Da möchte ich manchmal in des Intendanten Gehirn sehen, was er denn so denkt, wenn er die wirklichen – nicht geschönten, an der Kasse voll bezahlten – Auslastungszahlen der Ballettvorstellungen liest oder gar in einer Abo-Vorstellung erlebt, wie die Zuschauer zuhauf das Haus verlassen. Das Experiment Wiesbaden-Thoss scheint nach der zweiten Spielzeit gründlich fehlgeschlagen zu sein (und van Cauwenbergh kann sich die Hände reiben, wenn er in Essen Zusatzvorstellungen ansetzen muss). Von Forsythe habe ich nichts Neues gesehen – war aber von seinem kompletten „Artifact“ in Zürich ungemein beeindruckt (mehr von den Tänzern, wie die das hingekriegt haben, als von dem Werk selbst, das mir nach wie vor wie vor mit seinen brutalen Eisernen-Vorhang-Schlüssen wie eine Hinrichtung Bachs mit dem Fallbeil erscheint). Und das in anderthalb Dutzend, wenn nicht ausverkauften, so doch gut besuchten Vorstellungen. Um dann als nächste Premiere Bournonvilles „La Sylphide“ in der Version von Johan Kobborg herauszubringen. Was wieder einmal beweist, dass gut ausgebildete Tänzer alles tanzen können (die bloße Planung dieses Forsytheschen „Artifact“ bei dieser Spoerli-geschulten Truppe hatte ich noch für äußerst gewagt gehalten). So erzieht man sein Publikum!

Stuttgart begann die Serie seiner Uraufführungen mit einem abendfüllenden „Hamlet“ von Kevin O‘Day: wenig Erhellendes über Shakespeare (anders als Crankos „Romeo und Julia“ oder Neumeiers „Othello“, allenfalls Rollenfutter für Super-Tänzer). Später folgten Novitäten von Jorma Elo, Douglas Lee, Edward Clug (ein Rumäne, Chef des Slowenischen Nationalballetts in Maribor – kann gerne wiederkommen) und Marco Goecke – ein wirklicher „Knüller“ war nicht darunter. Wurde auch der groß angekündigte Glucksche „Orphée et Eurydice“ als Koproduktion von Oper und Ballett nicht, choreoinszeniert von Christian Spuck. Unter all den Gastchoreografen hätte man gern mal wieder Daniela Kurz gesehen, die auch in ihrem Aus-Jahr einer Einladung nach Stuttgart schwerlich abgeneigt gewesen wäre.

Eine hundertprozentige Erfolgsmeldung kommt aus der Off-Szene, wo sich Eric Gauthier mit seinen Tänzern fest im Theaterhaus etabliert hat und – Wunder über Wunder! – ein eigenes Publikum anzieht – in durchaus freundlicher Nachbarschaft zum Stuttgarter Ballett. Warum nicht mal eine Gastserie mit einem der Stars vom Stuttgarter Ballett – beispielsweise Friedemann Vogel in einem für ihn choreografierten Ballett von Gauthier? Lokale Aufregung verursachte die Ankündigung, dass sich Rainer Woihsyk – erst kürzlich als Nachfolger von Fritz Höver installiert – von der Leitung der Stuttgarter Noverre-Gesellschaft, diesem weltweit renommierten Forum für junge Choreografentalente, zurückziehen wolle. Jetzt sieht es so aus, als ob Reid Anderson zusammen mit Goecke und Lior Lev die Arbeit von Höver und Woihysk fortsetzen werden.

Gutes höre ich von der Ballettarbeit in Augsburg (Robert Conn), Saarbrücken (Marguerite Donlon), Mannheim (Kevin O‘Day und Dominique Dumais), Bielefeld (Gregor Zöllig), Münster (Daniel Goldin), Gelsenkirchen (Bernd Schindowski), Braunschweig (Eva-Maria Lerchenberg-Thöny), Dortmund (Xin Peng Wang), Salzburg (Peter Breuer) und Linz (Jochen Ulrich), Stralsund (Ralf Dörnen) und Chemnitz (Neuanfang mit Lode Devos). Das heißt nicht, dass nicht auch in Magdeburg, Gießen, Halle, Schwerin, Kiel, Cottbus, Kassel, Bremen/Oldenburg und in vielen anderen Städten solide Arbeit geleistet würde, aber sie wirken kaum über ihren lokalen Umkreis hinaus.

Und Leipzig? Aus der Messestadt vernimmt man sehr gemixte Reports. Da hilft auch die Berliner Lobby nichts: Paul Chalmer ist offenbar beim neuen Opernintendanten in Ungnade gefallen und muss gehen. Und teilt damit das Schicksal des Wiener Gyula Harangozó, der es als Zanella-Nachfolger fertiggebracht hat, das Wiener Staatsopern- und Volksopernballett in die völlige Bedeutungslosigkeit zu führen. Und Sasha Waltz? Von ihr habe ich leider in letzter Zeit nichts gesehen. Und Joachim Schlömer? Der macht sich neuerdings ziemlich rar, arbeitet lieber in der Oper („Entführung aus dem Serail“ in Luzern, Schumanns „Paradies und die Peri“ in Mannheim), hat für seine pvc-Kompanie in Heidelberg und Freiburg – „In Schnee“ zu ausgewählten Cello-Suiten von Bach choreografiert – prätentiöser Stuss, bei dem man sich fragt, was das denn mit Bach oder – wie behauptet – mit dem „Zauberberg“ von Thomas Mann zu tun hat.

Die pvc-Kompanie, unter deren Namen sich niemand etwas vorstellen kann, der eher an ein Reinigungsmittel für die Toilette denken lässt, wuselt in beiden Städten vor sich hin, ohne dort wirklich heimisch geworden zu sein. Wenn man bedenkt, welche schöpferischen Energien in früheren Jahren von beiden Städten ausgegangen sind, kann man nur resignierend feststellen, dass ihre Arbeit heute außer ein paar Eingeweihten niemand wirklich interessiert. Hoffentlich besinnt sich Schlömer, als Nachfolger von Michael Birkmeyer neuer Chef des St. Pöltener Festspielhauses, darauf, dass er Theater für das Publikum und nicht für eine Klientel von Choreosophen macht.

Gerne habe ich zur Kenntnis genommen, wie die Arbeit an unseren Ballettschulen floriert und so bedeutende Fortschritte macht, dass sogar das Ausland darauf aufmerksam wird – ich denke da besonders an Hamburg, München und Stuttgart (weniger an Berlin). Dass zunehmend junge Schüler aus dem Ausland kommen, um hier Ballett zu studieren – wer hätte das noch vor für zehn Jahren für möglich gehalten! Sogar aus Russland (aber auch beispielsweise aus Australien) – um in unseren Kompanien Karriere zu machen – siehe Alexandre Riabko und die neue Hamburger Zukunftshoffnung, den gerade zwanzigjährigen Alexandr Trusch aus der Ukraine, der in seinem Steckbrief Kevin Haigen als seinen Hauptlehrer nennt.

Abschied zu nehmen galt es in dieser Saison von zwei auf ihre sehr verschiedene Art Überlebensgroßen: Pina Bausch, die am 30. Juni 2009 im Alter von knapp 69 Jahren verstarb, und Merce Cunningham am 26. Juli 2009, der gerade kürzlich noch seinen 90. Geburtstag hatte feiern können. Über beide ist so viel geschrieben worden, dass ich mir die Nachrufe hier ersparen kann. Drei Ballerinen, die sich mir auf ihre unverwechselbare persönliche Weise unauslöschlich eingeprägt haben, waren Nadia Nerina, Ashtons quecksilbrige Lise in seiner „Fille mal gardée“, gestorben 81-jährig am 6.10.2008, Ekaterina Maximowa, die Kitri der schönsten Ballettvorstellung meines Lebens beim Bolschoi-Gastspiel in Köln an der Seite ihres Mannes Wladimir Wassiljew, 70-jährig am 28. April 2009 gestorben, und Eva Evdokimova, die klassischste aller deutschen Ballerinen (auch wenn sie als Amerikanerin in Genf geboren wurde), 60-jährig am 3 April 2009. Und noch ein kurzes Memorial für Ferry Kemper, der als Schüler vor dem Abitur zu mir kam und kurz angebunden erklärte, Ballettkritiker werden zu wollen, ein toll begabter Bursche sowohl als Musiker wie als Maler und, wie sich rasch herausstellte auch als Schreiber, der aber vorzog, einen „seriösen“ Beruf zu ergreifen, Medizin studierte und ein international gefragter orthopädischer Chirurg wurde, indessen keine Ballettvorstellung ausließ, wo immer er auf seinen Weltreisen die Gelegenheit zu einem Besuch hatte, gestorben am 7. November 2008, gerade mal fünfzig Jahre alt.

Von den wenigen deutschsprachigen Buchpublikationen, die mich erreicht haben, hat mich Ralf Stabels „IM ‚Tänzer‘- Der Tänzer und die Staatssicherheit“ eher enttäuscht, weil sie lauter Geschichten über DDR -Tanzpersönlichkeiten enthält, ohne sie beim Namen zu nennen – was zu den abenteuerlichsten Mystifikationen einlädt. Dagegen bringt Susanne Beyers „Palucca – Die Biographie“ zahllose bisher unbekannte Details ihres ereignisreichen Lebens, ans Tageslicht. Der umtriebige Kieser-Verlag hat zwei neue Bücher über Grete Wiesenthal, die Tänzerin des Wiener „Aufbruchs“, veröffentlicht. Keine unserer Fachpublikationen über den Tanz kann sich in puncto Informationsfülle mit dem ständig expandierenden tanznetz im Internet messen, das schneller, ausführlicher und wahrlich international aufgestellt ist – bewerkstelligt von lediglich zwei Ladies, die von München und Waiblingen aus, so scheint es, mit der ganzen Welt verbunden sind. Aber DAS Buch der Saison ist eindeutig der Hamburger Ausstellungskatalog „Tanz der Farben - Nijinskys Auge und die Abstraktion“ – seiner vielen Abbildungen aber auch seiner kunsthistorischen Artikel (deutsch und englisch) wegen. Ganz zu schweigen von seiner geradezu bibliophil liebevollen Aufmachung – schon allein es in der Hand zu halten, ist wegen seines kostbaren Einbands ein Genuss).

Und das Ärgernis der Spielzeit? Da ist einmal die fortbestehende Weigerung des Stuttgarter Cranko-Erben, eine Cranko-Stiftung zu gründen, für die nach wie vor reichlich fließenden Tantiemen der Cranko-Einstudierungen rund um den Erdball (in der gerade beendeten Saison allein achtzehn an der Pariser Opéra, acht an der Wiener Staatsoper und weitere beim Bayerischen Staatsballett und in Berlin). Gewundert habe ich mich wiederholt bei der FAZ über die Unausgewogenheit ihrer Ballettberichterstattung: ein Zweispalter über den Spaziergang in Rom mit dem Leipziger Ballettchef nach einer abgesagten Premiere – aber seit Jahren nichts über die Premieren und Uraufführungen beim Stuttgarter Ballett. Natürlich haben wir alle unsere Vorurteile, aber eine derartige Bevorzugung gibt doch zu denken. Vermissen tue ich nach wie vor die von Hartmut Regitz betreute verdienstvolle Dokumentation der einzelnen Kompanien in den Jahrbüchern von ballettanz – und daselbst auch die Veröffentlichung eines Jahresregisters, was unsere journalistische Arbeit doch sehr erschwert.

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