Diaghilew hier, Diaghilew dort
Versuch einer Spielzeit-Bilanz
„Diaghilev. A Life“ von Sjeng Scheijen bei Profile Books
Nun also doch noch am Ende des Ballets-Russes-Jubiläumsjahrs 2009 eine sensationelle Buchpublikation über das Leben ihres Gründers, Sergej Diaghilew. Exakt dreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung der englischen Standardbiografie von Richard Buckle (1979 bei Weidenfeld & Nicolson, London – deutsch 1984 bei Busse, Herford). Wer hätte das aber auch für möglich gehalten: die Entdeckung so vieler Details aus dem Leben des Impresarios und seiner Kompanie, beruhend auf Offenlegung russischer Quellen, die Buckle noch nicht zugänglich waren. Sie betreffen vor allem die frühen Jahre Diaghilews als Ausstellungsmacher, Herausgeber und Autor der Kunstzeitschrift „Mir Iskusstwa“ und der Jahrbücher der Kaiserlichen Theater sowie als Vorbereiter der Pariser Frühjahrssaisons ab 1906 mit Konzerten und Opernaufführungen.
Es ist nahezu unfassbar, welche Schwierigkeiten Diaghilew in seinen Anstrengungen, russische Kunst im westlichen Ausland bekannt zu machen, begegnete. Wie bestimmte Persönlichkeiten der Hofkamarilla um den Zaren gegen ihn arbeiteten. Doch war das ein Nichts gegen die Hindernisse, die Diaghilew in den zwanzig Jahren der Existenz seiner Ballets Russes zu überwinden hatten, dieses ständige Balancieren am Rande des finanziellen Ruins, nicht zu reden von den Malaisen des Fortbestands seiner Kompanie außerhalb Russlands in den Jahren des Weltkriegs, ganz zu schweigen von den Launenhaftigkeiten und Kabalen seiner Geldgeber und seiner Künstler (und Liebhaber). Und wie er doch immer wieder seinen unbedingten künstlerischen Novitäts- und Perfektionswillen durchzusetzen verstand – auch noch während der schweren Erkrankung in den letzten Lebensjahren.
Gerade für diesen letzten Lebensabschnitt präsentiert Scheijen, der ein meisterhafter Erzähler ist, der einen unwiderstehlich hineinzieht in seine Darstellung der aktuellen Geschehnisse, so dass man sich fast wie ein Augenzeuge vorkommt, eine überwältigende Fülle von Fakten. Etwa über die Versuche der neuen sowjetischen Machthaber, Diaghilew nach Russland zurückzuholen, ihm sogar den Posten des Kulturministers zu offerieren – und andererseits Diaghilews unsägliches Heimweh nach dem Land seiner Geburt und dem dringenden Wunsch, noch einmal dahin zurückkehren zu können, vor allem auch um die Reste seiner innigst geliebten Familie wiederzusehen – eine vergebliche Hoffnung, wie sich herausstellen sollte.
Es ist ein Buch (ursprünglich auf Holländisch erschienen, dann auf Englisch bei Profile Books, London 2009, ISBN 978 1 84668 1417, 525 Seiten, mit zahlreichen schwarz-weißen und farbigen Abbildungen, 25 £ und ca. 29 Euro), in das man sich so involviert vorkommt, das man seinem Ende mit ausgesprochener Beklommenheit entgegensieht. Ich muss gestehen, dass ich bei den letzten Kapiteln ein Ritardando eingeschoben habe, nur um das Ende möglichst lange hinauszuzögern! Und doch kann ich mir nicht versagen, noch auf eine andere, ähnlich monumentale Lektüre hinzuweisen, die mich in diesem Jahr 2009 genauso gepackt hat wie Scheijens „Diaghilev“: Martin Dubermans „The World of Lincoln Kirstein“, erschienen schon 2007 bei Alfred A. Knopf in New York (ISBN 978-1-4000-4132-9, 723 Seiten, zahlr. schwarz-weiße Abbildungen, $ 37,50, ca. 26 Euro, als Taschenbuch ca. 17 Euro).
Es ist ja geradezu verblüffend, wie sich die Biografie dieser beiden Männer ähnelt, von denen der eine (Diaghilew) das russische Ballett weltweit bekannt gemacht hat, während der andere (Kirstein) das europäische Ballett via Balanchine nach Amerika transferiert hat – wobei beide ständig mit ähnlichen Problemen (permanente finanzielle Schwierigkeiten) zu kämpfen hatten. Bei völlig verschiedener Herkunft und politischen Verhältnissen und gänzlich unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen. So dass ich mir vorstellen kann, dass einmal ein Autor erscheint, der sich Diaghilews (1872 geboren) und Kirsteins (Jahrgang 1907) als Gegenüberstellung zweier Persönlichkeiten annimmt, die beide als Nicht-Tänzer und Nicht-Choreografen das Ballett als repräsentative künstlerische Ausdrucksform des 20. Jahrhunderts entdeckt und durchgesetzt haben.
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