Auf dem Narrenschiff
Ein Fotoblog von Dieter Hartwig über Toula Limnaios' „la nef des fols“
Zwei Wochen nach ihrer dritten Brasilien-Tournee kehrte die renommierte Kompanie in ihr Berliner Domizil HALLE Tanzbühne Eberswalderstraße zurück und präsentierte am vergangenen Freitag die stark akklamierte Uraufführung von „wound“. Die neue Arbeit bestätigt wie im besten Sinne eingespielt dieses internationale Ensemble um die griechische Choreografin Toula Limnaios und den Berliner Komponisten Ralf R. Ollertz arbeitet. Entstanden ist ein polyphones Tanzstück mit offenem Ausgang: langsam und hochkonzentriert entfalten sich assoziative Bilderwelten von verstörender Wirkung und überraschend sanften Momenten, die einander tangieren, folgen, überlagern, in der Wiederholung eine magische Konzentration im Publikum ermöglichen, das sich dem Sog aus Bewegung, Musik, Bild- und Filmsequenzen, Licht und Kostüm nicht entziehen kann.
Flankiert von schwimmenden Film-Männern unter Wasser taucht der Zuschauer in Abgründe. Das einstündige „Traumspiel“ mit den Traumata des einzelnen Menschen in Beziehung zur Welt beginnt mit dem flehenden Ruf einer Frau (Fleur Conlon) im Licht: „Sehen Sie mich, schwach, sehen Sie näher hin?“ Sie balanciert ein Buch auf dem Kopf, auf das die anderen Klötzer stellen. Erst später wird der Zuschauer auf dem Buch-Cover das Wort Goya lesen. Das Eingangsensemble entfacht ein Crescendo rhythmischer Schläge auf Oberschenkel und Bauch, bis sich die Hände krümmen und kratzenden Klauen ähneln. Später hört man hundeartiges Knurren, merkwürdig schlagende Bewegungen der Beine. Eine Frau schaut ins Publikum mit sanft pendelnden Armen, die sich explosiv in wirbelnde Ekstase schrauben und abrupt in unmerkliche Bewegung zurückpendeln. Menschen in Erschütterung. Unter der Oberfläche lauert die Gewalt, brodelt die Kraft der Zerstörung. Das nicht Geheure offenbart sich in Details. Toula Limnaios choreografiert parallele Pas de deux und Gruppenszenen von divergierender Kraft als Abgründe menschlicher Verletzungen auf der Suche nach Leben.
Ein Mann (Hironori Sugata) gibt eine Frau (Ute Pliestermann) nicht frei, seine Hand bleibt immer an ihrer Gurgel; zeitgleich balanciert eine besitzergreifende Frau (Mercedes Appugliese) anfangs hochhackig beschuht auf dem Körper und den Gliedmaßen eines Mannes (Clebio Oliveira). Sie (be)tritt ihn; er lässt sie nie fallen, sie steht auf ihm, er reicht ihr die Stöckelschuhe, sie schmiegt sich an ihn, frei ist er nicht. Die Paartänze und Gruppenaktionen etablieren auf der Szene die Verwundbarkeit der menschlichen Kreatur. Dabei potenzieren die dramaturgisch kontrapunktisch oder vertiefend platzierten s-w Filmsequenzen (Video: cyan) die Bildkraft und lenken den Blick des Zuschauers in neue Abgründe: Im großformatigen Film rennt eine Frau wieder und wieder gegen eine Schwingtür, während auf der Szene die Gruppe wie hypnotisiert vorwärts geht. Menschen im Licht sprechen von ihrem Traum, parallel minimieren zwei Männer den Bewegungsspielraum einer Frau brutal. Hitchcock-Effekte entstehen durch die Konfrontation von zwei sich schlagenden Frauen, einem Mann, der die auf ihm liegende Frau nicht erträgt, in deren Mitte jedoch ein Paar unbeirrt (Mercedes Appugliese auf den Schuhen von Clebio Oliveira stehend) einen liebevoll-absurden Tango tanzt. Auf der Leinwand flirren derweil Szenen aus alten Filmen von einem Mann, der akkurat einen Schmetterling aufspießt, von Albtraum geschüttelten Schlafenden, einer Frau mit angstverzerrtem Gesicht hinter Gittern, einem Eselkopf in Großaufnahme.
Kopflos, mit einem aufgeklappten Goya-Bildband vor den Augen, tastet sich ein Mann auf der Geraden vorwärts, die Arme locken, plötzlich stampft er mit dem Fuß, schnalzt galoppierend mit der Zunge, die Hand krampft sich animalisch. Er will gefunden werden, er wird gefunden, zwei Frauen zerren an seiner Haut, er gibt sich hin, lässt sich schinden. Wieder trägt die Frau das Buch auf ihrem Kopf. Goya. Goyas Radierung „Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ als Metapher der Angst. Symbolisch nehmen die „Schattenwesen“ die Steine mit sich fort. Im Video wirbeln bunte Buchseiten. Der einsam tanzende Körper eines Mannes erlischt im Dunkel der Szene, während im bunten Video-Bild erst ein Fernseher dann ein Kühlschrank detonieren. Fleischreste, Tuben, und Schrott – eine Welle von Zivilisationsmüll kreist bunt weiter.
Der Mensch wird verwundet durch den anderen Menschen, durch sich selbst, durch die Welt, in der er lebt, durch die Welt, die er sich schafft. Das neue Tanzstück „wound“ ertastet Momente menschlicher Verwundbarkeit, offenbart Verletzungen als Resultat unerfüllter Sehnsucht vom Aufgefangen-, Gehalten- und Verstandenwerden. Die Träume leben weiter. Die Albträume sind nicht ausgeträumt. Die Wunden sind nicht verheilt. Ein nachdenklicher Tanzabend von verstörender Bildkraft und bezwingender Intensität.
„wound“ wird im November auch in Frankfurt/Main und Kopenhagen gespielt. Im Frühjahr 2010 wird die Kompanie eine Koproduktion mit dem senegalesischen Ensemble jant-bi und der Choreografin Germaine Acogny erarbeiten.
Nächste Aufführungen: 19. - 22. Nov. 2009, 20 h HALLE Tanzbühne Berlin
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