Ein Triumph der Jugend
John Neumeier eröffnet die 48. Hamburger Ballett-Tage mit „Romeo und Julia“
Noch heute, nach mehr als 85 Jahren, ist Igor Strawinskys klirrend kantige Komposition „Les Noces“ für manche Zuhörer starker Tobak. „Im Radio hätte ich das abgeschaltet“, meinte eine Frau mittleren Alters nach der Vorstellung, in der ihr das schlagzeugstarke, mit vier Klavieren bestückte Werk mit Gesang gleich zweimal vorgeführt wurde: Das bei den Hamburger Balletttagen gastierende Ensemble „Ballet de Lorraine“ (Centre Chorégraphique National in Nancy) wagte den Kontrast zwischen der originalen Schöpfung von Bronislawa Nijinska (Paris, 1921) bei den Ballets Russes und der neuen Choreografie „Mariage“ des Finnen Tero Saarinen (Nancy, 2007). Nijinska arbeitet mit Blöcken, baut Pyramiden auf, vermittelt den Eindruck eines starren Rituals, in dem der individuelle Mensch keine Rolle spielt. Die Tänzer sind in schwarzweiße Kostüme russischer Art gekleidet, sinnliche Farben und Bewegungen haben hier keinen Platz. Die strenge Geometrie bis hin zur paarweise aufgebauten Diagonale, zu den Verschiebungen der Kleingruppen gegeneinander, den Reihen, den Kreisen weckt Begeisterung wegen des unerschöpflichen Erfindungsreichtums der Nijinska, auch wegen der fast perfekt agierenden Tänzer macht jedoch zugleich frösteln wegen des unmenschlich kalt, unaufhaltsam abrollenden Geschehens, in dem der Einzelne eingezwängt wird. Die Hände sind über weite Strecken zu Fäusten geballt, die Körper agieren oft seitlich zum Zuschauer, verstärken den asketischen Charakter der Zeremonie im geschlossenen Raum mit hoch angesetzten kleinen Fenstern. Nijinskas Bewegungsrepertoire speist sich teils aus stilisierter Folklore mit seinen Schaukelschritten, den Sprüngen – auch synkopisch – mit parallel geschlossenen Beinen, gerundeten Armen. Sie verwendet immer auftauchende Sequenzen wie beispielsweise zwei kurze Sprünge gekoppelt mit Trippelschritten auf der Spitze. Die eigentliche Spannung entsteht aus den dauernden virtuosen Verschiebungen der Gruppen im Raum zu dem ständig treibenden Sog der komplexen Musik, aus dem fließenden Aufbau der Blöcke und Pyramiden, in denen das Individuum verschwindet. Wenn der meterlange Zopf, bildliches Symbol des für sich stehenden Rituals, der meist passiven Braut um den Hals gelegt wird, scheint er die Frau zu erdrücken. Folgerichtig ist die Zusammenführung des Brautpaares auf der zweiten Bühne im Hintergrund (Bühne und Kostüme: Natalia Gontscharowa) keine fröhliche Angelegenheit, sie wird unausweichlich vollzogen nach alter Sitte, Gefühle spielen keine Rolle. Scheinbar im Gegensatz zum Text, der viel von Liebe spricht, es jedoch ebenso idealtypisch meint wie Musik und Tanz. Nijinska gelingt das Kunststück, den Tanz mit der Musik zu verschmelzen, ohne dessen Eigenständigkeit aufzugeben.
Das gelingt Tero Saarinen in seiner „Mariage“ zur selben Musik nur partiell. Er nutzt einen düsteren Raum mit einer runden Rampe im Hintergrund als Ort für seine Choreografie. Unter einer Art Lichtdom zu aufwallendem Nebel erscheint eine Gesellschaft in langen schwarzen Gewändern, aus der sich bald nach einer vor und zurück schwingenden Bewegung aller eine kurzberockte Frau (sehr präsent: Valérie Ferrando) absetzt, die mehr Opfer als handelnde Person zu sein scheint. Ausbruchsversuche von ihr werden unterbunden. Bald spaltet sich das Ensemble auf in weiß und schwarz Gewandete, der Mann (Joris Perez, robust) tritt hervor. Das Paar scheint zugleich voneinander angezogen und abgestoßen zu sein. Saarinen fächert das Ensemble auf in drei in die Tiefe gestaffelten Reihen, die Schwarzen auf der Rampe, die Weißen davor, löst sie auf in Einzelaktionen. Frau und Mann werden getragen. Sie nähern sich, springen aneinander vorbei, schieben sich am Rand der Rampe zueinander. Immer wieder greifen die Umstehenden ein, sie zwingen das Paar in das wie auch immer vorgegebene Muster. Der weiche Bewegungsduktus in gemäßigt modernem Stil schleift selbst wilde Ausbrüche zu ästhetisch anzuschauenden Momenten ab. Am Ende kommt das Paar zusammen, stützt sich aber nur mit dem geringst möglichen Kontakt seitlich an der Schulter, ihre Körper meiden jede nähere Berührung. Saarinen erweist sich zwar als geschickter Arrangeur, vermag aber nicht die Spannung wie die Nijinska aufzubauen.
Ein gänzlich anderes Kapitel, choreografisch wie musikalisch, schlägt „Petruschka“ in der Originalfassung von Michail Fokine (1911, Paris) zu Beginn des Programms auf: buntes Treiben mit tragischem Unterton. Schon der Zwischenvorhang mit nächtlicher Szene, auf der schwarze Ungeheuer mit bleckenden Zähnen und Schweineschwanz über den dunklen Himmel fliegen, unter ihnen die Dächer eines Ortes, weist darauf hin. Fokine bettet das Geschehen um die Puppen Petruschka, Ballerina und Mohr mit ihrem alten Scharlatan in das bunte Treiben eines Jahrmarktes (Bühnenbild und Kostüme: Alexandre Benois), fährt im ständigen Wechsel einen Fundus an folkloristischen Tänzen auf, die manches Mal gleichzeitig quirlig zur saftigen Musik von Strawinsky ablaufen. Da ist jede Menge los, das Auge vermag dem kaum zu folgen. Bis der geschundene Petruschka, der primitive Mohr (heute politisch unkorrekt) und die überzüchtete Ballerina (Amandine Mano) auftreten, vorgeführt vom Scharlatan. Die darauf folgende Werbung Petruschkas um die Ballerina, ihre Abweisung, die Verfolgungsjagd durch die Menge, bis der Mohr Petruschka mit dem Säbel erschlägt rührt trotz seiner Nähe zum holzschnitthaften Kasperltheater. Fokine erfindet für Petruschka nach innen gekehrte Beine und lockere, wie knochenlose Arme. Dem Mohr (Cyris Griset) gibt er breite Schritte auf flacher Sohle, der Ballerina zierliche auf der Spitze mit eckigen Armen. Natürlich steckt Alexis Gutierrez-Wosylus als gekonnt „schlabbriger“ Petruschka den meisten Beifall ein, mit ihm leidet man trotz der Auferstehung am Schluss. Sein Typ der unterdrückten Kreatur ist eben unsterblich – zumal in Russland.
Allein die gloriose Leistung des Ensembles, das die drei Brocken bravourös bewältigte, macht den Abend zu einem Erlebnis. Bei der Begegnung mit der zum Leben erweckten Tanzgeschichte faszinieren mich letztlich Nijinskas kongenial geschaffenen „Les Noces“ mehr als Fokines „Petruschka“. Wieder einmal ärgerlich: Musik vom Tonträger heißt es lapidar im Programmzettel, ohne Angabe der Interpreten, geschweige denn des Textes zu „Les Noces“.
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