Mehr als mitreißende Tangoshow

Das Musical „Tanguera“ porträtiert in der Lindenoper das Schicksal von Einwanderern

Berlin, 13/07/2009

Über eine Rampe betreten die Neuankömmlinge Argentiniens Boden. Hafenarbeiter verrichten routiniert ihre Arbeit, nur einer merkt auf: Der letzte Passagier hat es ihm auf Anhieb angetan. Es ist Giselle, die Französin, die mit falschen Versprechungen über den Ozean gelockt wurde, zögerlich das Schiff verlässt, an Land von einem zwielichtigen Ganoven mit Handkuss begrüßt und abgeleitet wird. So könnte es in den 1880ern zugegangen sein, als Zehntausende Europäer in die Neue Welt strömten, nach Montevideo oder Buenos Aires, um dort ihr Heil zu finden. Noch zitieren etwa Russen fröhlich ihre Tanzfolklore, während eine Sängerin schon melancholisch von den Beschwerlichkeiten in der fremden Stadt berichtet. Denn wie den meisten damals ergeht es auch Giselle: Das Glück ist ein trügerischer Geselle. Ihr Galan Gaudencio erweist sich als Gauner, der mit Drogen dealt und einen Nachtclub besitzt. In den bringt er die naive Frau und verführt sie. Fortan muss sie sich als Tanguera und Dirne ihr Geld verdienen.

„Tanguera“ heißt daher auch jenes Musical, das zum bereits zweiten Mal in der Lindenoper gastiert. Es will den Tango zu neuen Ufern führen, von der bloßen Präsentation des typischen Schrittmaterials hin zu einer erzählerischen Struktur. In der Tat eignet er sich mit seiner musikalischen und textlichen Dramatik dafür, eine Handlung zu transportieren. Die besteht hier in Giselles Konflikt zwischen der Abhängigkeit von Gaudencio und dem Gefühl für Lorenzo, jenem armen Hafenarbeiter vom Beginn. Traurig geht es in einem Lied um die Glückssucherin aus Paris und die Liebe als großes Fragezeichen. Giselle wird im Bordell, vor dem Wäscherinnen von der Gaunerclique belästigt werden, durch die Leiterin abgerichtet, dort, wie die Sängerin mit tragischer Geste kündet, wo Gutes billig verkauft wird. Im höllisch rotlichtigen Lokal tanzt sie mit anderen Mädchen in knappem Mieder und Boa vor Freiern, schanzt ihr Gaudencio einen widerlichen Alten zu, schickt sie gar auf den Straßenstrich. Während sie ein kurzes Treffen mit Lorenzo genießt, erleiden ihre Kolleginnen hinter Tüll bereits erotische Scharmützel. Im Kampf gegen die Ganoven erringen Lorenzo und seine Freunde zwar einen Sieg. Als er und die befreite Giselle bereits den Hafen erreicht haben, nehmen die Gauner dort blutige Rache. Schon ergießen sich neue Glückssucher an Land, auch Gaudencio erwartet sein nächstes Opfer. Wie der Tango selbst hat auch „Tanguera“ kein Happyend.

Seit der Premiere 2002 erobert das ungewöhnliche Musical aus Buenos Aires die Bühnen der Welt und besticht durch Omar Pachecos straffe Inszenierung und die teils bekannten Melodien ebenso wie durch Mora Godoys perfektionierte Choreografie. Alles was den einst von Zuhältern erfundenen Tango ausmacht, taucht auf: der Tanz unter Männern, der virtuos mit den Beinen ausgetragene Kampf der Geschlechter, Hingabe und Verweigerung, das fabulöse Spiel mit sinnlichen Figuren wie dem Aufsitzen der Frau auf dem Oberschenkel des Partners. Ariel del Mastro gießt in flirrend diffuse Lichtkegel, was Godoy den fabelhaften Tänzern an Gruppenbildern mit furioser Hebe- und Wurfakrobatik maßgeschneidert hat. Gabriela Amalfitani und Esteban Domenichini als Hauptpaar sind die Sympathien sicher.

Bis 19.7., Staatsoper Unter den Linden, Berlin

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