Auf der Suche nach dem, was uns steuert
Uraufführung „Ahead“ von Jan Pusch am Staatstheater Braunschweig
Mit „Bingo?“ gibt der neue Tanzchef Jan Pusch sein gelungenes Debüt am Staatstheater Braunschweig
Die erste Erfahrung mit Braunschweig verlief für Jan Pusch unerfreulich. Als sich der 1966 in Leipzig geborene und an der renommierten Münchener Heinz-Bosl-Stiftung ausgebildete Tänzer beim damaligen Braunschweiger Tanzchef Pierre Wyss beworben hatte, war er abgelehnt worden. Seit dieser Saison ist Pusch nun selbst neuer Tanzdirektor am Staatstheater und das Blatt hat sich gewendet. Sein Debütwerk „Bingo?“ ist am vergangenen Sonnabend vom Publikum mit stürmischem Jubel aufgenommen worden.
Pusch, der mehrere Jahre beim Hamburg Ballett unter der Leitung von John Neumeier getanzt hatte, arbeitet seit 1994 als Choreograf, die vergangenen drei Jahre am Staatstheater Oldenburg. Seine Produktionen wurden mehrfach ausgezeichnet und haben ihren ganz eigenen, kraftvoll-intensiven Stil. Anders als seine Vorgängerin Eva-Maria Lerchenberg-Thöny erzählt der neue Tanzchef keine abendfüllenden Geschichten, sondern beschäftigt sich inhaltlich mit Themen der Alltagswelt. So handelt „Bingo?“ von den unvorhergesehenen Ereignissen, die das Leben zu einer Art Glücksspiel geraten lassen. Wie reagieren Menschen, wenn ihre durchgeplante Existenz durcheinandergerät?
Acht Tänzer zeigen zur eigens komponierten Musik von Bert Halberschmidt wie unterschiedlich sich der Einzelne den Herausforderungen durch das Unerwartete stellt. Ängstlich kriechend, kraftvoll fordernd, kalt ablehnend oder unsicher schleichend verleihen sie der jeweiligen Strategie vom Umgang mit dem Schicksal eine sehr individuelle Ausdrucksform. Dazu gehört auch Sprache, die Pusch ganz bewusst als Mittel einsetzt, um ihm wichtige Inhalte eindeutig zu transportieren. „Jedes Medium hat seine Grenzen, auch der Tanz“, meint der Choreograf. Die während der Vorstellung wiederholt gestellte Frage „Hat hier jemand einen Plan?“, soll offenbar diese Grenzen aufheben. Der Einsatz von gesprochenen Worten als ergänzendes Mittel der Kommunikation ist gelegentlich hilfreich, aber nicht immer zwingend nötig. Denn die Tänzer agieren auf der spartanisch von grauen Stellwänden umgrenzten und mit weißen Plastikschnipseln übersäten Bühne überaus ausdrucksstark, so dass die Gefahr von Missverständnissen eher gering sein dürfte. Dass nur jeweils die Hälfte des 16-köpfigen Ensembles pro Aufführung tanzt, erklärt Pusch mit seinem Wunsch, die völlig neu zusammengestellte Kompanie gründlich kennenlernen und ausprobieren zu wollen.
Die choreografische Idee, die „Bingo?“ zugrunde liegt, hat Pusch bereits zweimal aufgenommen. Im Laufe der Arbeit mit seiner jungen Tänzertruppe haben sich die einzelnen Szenen dann jedoch so stark geändert, dass ein völlig neues Stück herausgekommen ist. Aus dieser Entstehungsgeschichte erklärt sich, dass es nun in Braunschweig statt einer Gesamt-Uraufführung sozusagen zwei Premieren mit zwei komplett unterschiedlichen Besetzungen gibt. Die eher kurze Vorstellungszeit von einer Stunde ist sicherlich nicht zuletzt auf den überaus kräftezehrenden Tanzstil des neuen Tanzdirektors zurückzuführen. Schwungvolle Drehungen enden abrupt in erstarrten Posen. Mitunter balancieren die Tänzer sekundenlang bewegungslos auf einer Hand oder verrenken ihre Gliedmaßen so kunstvoll-grotesk, dass es nahezu wie ein Wunder erscheint, wenn sie die akrobatischen Figuren unbeschadet wieder auflösen.
Diese Dynamik, gepaart mit spielerischer Leichtigkeit, nimmt die Zuschauer von Beginn der Aufführung an gefangen und hält sie bis zum fulminanten Schluss in Atem, wo die Tänzer ihre Körper wie ein einziges Rhythmusinstrument einsetzen. Stampfend, klatschend, schnipsend und schlagend treiben sie das Tempo völlig synchron unerbittlich an, bis sich die Spannung in einem Regen aus Plastikschnipseln entlädt und die Bühne schlagartig dunkel wird. Das Publikum revanchierte sich für den unermüdlichen Körpereinsatz mit lang anhaltendem Applaus.
Die nächsten Vorstellungen von „Bingo?“ finden am 4. November um 19.30 Uhr, sowie am 21. und 28. November um jeweils 18.00 Uhr im Kleinen Haus des Staatstheaters Braunschweig statt.
Informationen und Karten gibt es im Internet unter www.staatstheater-braunschweig.de oder telefonisch unter (0531) 1234567.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments