Der Tanz-Philosoph
Jan Pusch, der neue Tanz-Direktor am Staatstheater Braunschweig, im Gespräch
Uraufführung „Ahead“ von Jan Pusch am Staatstheater Braunschweig
Die Frage, was unsere Wahrnehmung und unser Denken bestimmt, bewegt Neurologen, Psychologen und Philosophen. Sind wir Herr unserer Entscheidungen oder ist unser Gehirn eine autonome Steuerzentrale, auf die wir selbst keinen Einfluss haben? Mit dieser Problematik setzt sich Jan Pusch in seinem neusten Werk „Ahead“ auseinander, das am vergangenen Sonnabend am Staatstheater Braunschweig uraufgeführt worden ist. Auch der Tanzdirektor findet keine Antwort, was nicht erstaunt. Zu gigantisch ist das Thema, als dass in einer 90minütigen Choreografie mal eben geklärt werden könnte, worüber Heerscharen von Wissenschaftlern seit Jahrzehnten forschen, ohne letztlich das Reich der Annahmen und Vermutungen verlassen zu können. Wer als Zuschauer Erleuchtung erwartet, wird wohl enttäuscht. Nicht aber, wer sich von Puschs Fülle kleiner Spekulationen über mögliche Motive, die unserem Handeln vorausgehen – ihnen „ahead“ sind -, mitreißen lässt.
Zu Beginn hält es der Tanzdirektor zunächst alttestamentarisch: Am Anfang war das Wort - und das Wort bestimmt über die ersten zehn Minuten das Stück. In einem grauen Beduinenzelt diskutieren fünf Tänzer in kleidsamen Safari-Look („Der englische Patient“ lässt grüßen), warum sie dort sind, wo sie sind und ob sie überhaupt dorthin wollten, wo sie sich befinden. Gesangs- und Rapeinlagen bereichern kurzweilig das Geschehen auf der Bühne, unterstreichen das darstellerische Repertoire der Pusch-Kompagie und lassen gleichwohl den Verdacht aufkommen, der Choreograf vertraue seiner eigenen Bildsprache nicht.
Dabei sind derartige Hilfsmittel unnötig, denn Pusch verfügt über genügend Ideen seine Vorstellungen in Bewegung umzusetzen. Wenn etwa schwarz vermummte Gestalten die zuvor frei agierenden Tänzer steuern, bewegen, bestimmen, scheinbar ohne dass diese es bemerken. Wenn sie marionettenhaft an unsichtbaren Fäden hängen, einzelne Körperteile wie mit einem Eigenleben versehen unkontrolliert zucken, pendeln und ausschlagen. Dann tut die Kompanie das, was sie bei allen anderen Talenten am besten kann - tanzen.
Viele Facetten versucht Jan Pusch in seinem Werk unterzubringen: Träume, Ängste, Paranoia, Demütigungen und Wünsche, lauter Motive, die das menschliche Verhalten beeinflussen. Entsprechend vielfältig auch die Kostüme (Ullinca Schröder), von formlosen Zweiteilern in strengem Schwarz bis zu glänzenden Brokatkleidern, von schlichten Smokings mit Lackschuhen bis zum Drag-Queen-Outfit mit Glitzer-High-Heels, die wechselnden Bühnenbilder und Requisiten, die Musik des zeitgenössischen Komponisten Beat Halberschmidt, unterbrochen durch Einspielungen aus Werken von Bach, Purcell und Waldteufel.
„Ahead“ ist eine Gratwanderung. Noch ein wenig mehr und es wäre zu viel, noch ein wenig skurriler und es wäre Trash. Und wenngleich Pusch das Geheimnis in unserem Kopf nicht löst und keine endgültige Antwort auf die Frage findet, was genau uns „ahead“ ist, so gelingt ihm doch eines; eine mitreißende Collage aus vielen kleinen Erklärungsansätzen zu basteln, ein Kaleidoskop möglicher Einflüsse auf unsere geistige Kontrolleinheit zu erstellen und die Gewissheit, dass seine erstaunlich vielfältige Kompanie immer wieder sehr sehenswert ist – vor allem, wenn sie tanzt.
Die nächsten Vorstellungen von „Ahead“ finden am 2., 16. und 21. März um 19.30 Uhr im Großen Haus des Staatstheaters Braunschweig statt.
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