So unterschiedlich, so gleich
Gastspiel „Shift“ im Ludwigshafener Pfalzbau mit Duos von und mit Peter Chu
Christine Chu eröffnet mit Solo „Ichen“ die Saison im Treffpunkt Rotebühlplatz
Nicht nur auf Scheckkarten diverser Krankenkassen, sondern auch auf italienischen Euromünzen wandert Leonardos vitruvianischer Mensch - eingerahmt von Kreis und Quadrat - von Hand zu Hand. Jüngst wird er häufiger in Tanzperformances gesichtet, beispielsweise im „Sacre“ von Stephan Thoss und nun auch im Tanztheatersolo von Christine Chu mit dem Titel „Ichen“. Die Chu, eine mehrfach ausgezeichnete Tänzerin mit breit angelegter Stilistik von der Ausbildung an der Essener Folkwang Hochschule bis zu jahrelanger Berufspraxis mit der Butoh-Frauengruppe „Ariadone“ (unter Leitung der Tänzerin und Choreografin Carlotta Ikeda), stellt sich ins Zentrum des Raumes. Hell ausgeleuchtet ist die für zeitgenössischen Tanz gern genutzte Black Box in Stuttgarts verordnetem Kulturtreff am Rotebühlplatz.
Da steht sie, Proportionen so vollkommen wie schon Griechen und Renaissancekünstler sie entworfen hatten. Ein Vamp, hochhackig, breitbeinig, weißer Superminirock, bunte, eng anliegende Bluse, blonde Langhaarperücke und sonnenbebrillt, von Kopf bis Fuß erotisches Versprechen mit weit geöffneten Armen. Was ein Paradigmenwechsel des Menschenbildes vom Mann (von der Antike und bis gestern) zur Frau (Heute) hätte werden können, bleibt Projektionsfläche für männliche Wunschbilder. Auch wenn das linke Knie einknickt, immer tiefer sackt, bis die aufrechte Haltung nicht mehr zu halten ist, schließlich der ganze Körper von der Linken zu Boden gezogen wird und sich im Rollen von Brille, Perücke und Highheels befreit - die Basisfrage des Stückes: „Woher bezieht der Mensch seine Identität?“, bleibt Makulatur.
Sind es Kleider, die ich mir überstülpe? Ist es (verbale) Selbstentblößung (und Selbstentblödung), wie sie in TV-Shows propagiert wird? Sind es Promis, die mir aus den Medien zurufen, wie toll sie sind oder ist es mein ganz alltägliches Gegenüber? Zwischen übervollem Kleiderständer, Mikro und Publikum schickt Regisseur Philipp Becker die Tänzerin auf Identitätssuche. Im weißen Unterhemdchen, ein armes Sterntaler-Kind, das sich Titelseiten von Trendmagazinen vors Gesicht hält, lachende, ernste und tierisch ernste wie eine Kuh oder ein Tiger (aufgemerkt, hier darf gelacht werden!).
Doch ob die Methode nun „Kleider machen Leute“ heißt oder Patchwork-Identität genannt wird, ob die Chu dem Publikum hautnah ihre Blessuren zeigt oder am Mikro aufzählt, was sie alles ist, und ob dazu raffinierte Sounds raumplastisch rotieren oder „Dance me to the end of love“ eingespielt wird (Musik: Johannes Hofmann), die veräußerlichte Betrachtungsweise hinterlässt einen ebenso schalen Geschmack wie die Prämisse, dass wir wohl alle mehr oder weniger fremdbestimmt werden. Nicht zuletzt vom grellweißen Licht, das den Raum penetriert, gegen dessen antiseptische Gefühlsneutralität sich die Chu zumindest einmal durchsetzt, wenn sie im schwarz glitzernden Abendkleid, um den nackten Leib gebunden wie eine Schürze, den Blick frei gibt auf ihren Rücken, der sich dehnt, krümmt und windet. Eine Rückenstudie, pulsierend zwischen Lachen und Weinen, aus der sie eine Drehetüde entwickelt - einer der wenigen Augenblicke, in denen die Performance zu atmen beginnt, der Tanz sich ein Stückchen Seele zurückerobert.
www.treffpunkt-rotebuehlplatz.de
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