Verschiedenheit als Stärke

Das Produktionszentrum Tanz und Performance feiert zehnjähriges Jubiläum

Stuttgart, 11/10/2011

„Man muss laut werden!“, wirft Choreograf Marco Santi einen gar nicht so nostalgischen Blick zurück. Laut sind sie damals geworden, die Choreografen und Künstler der freien Tanzszene in Stuttgart, kämpften sich hartnäckig durch den „Dschungel der Kulturpolitiker“ und erreichten schließlich die Gründung ihres Produktionszentrums Tanz und Performance, das am letzten Wochenende sein zehnjähriges Jubiläum feierte. Wie enorm wichtig der feste Anlaufspunkt in der Tunnelstraße am Stuttgarter Pragsattel ist, wo der Verein nach vielen, vielen Ortwechseln nun seit einem Jahr residiert, stellte noch einmal der erste Vorsitzende Johannes Milla fest; das große Studio samt Büro hat dem PZ mit seinen heute 45 Mitgliedern wieder neuen Zulauf gebracht.

Für einen Workshop zum Jubiläum hatte man Dieter Heitkamp eingeladen, den deutschen Guru der Contact Improvisation und Leiter der Tanzausbildung an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Er trug seine langjährigen Netzwerker-Erfahrungen aus Berlin und Frankfurt bei, legte den Stuttgartern weiter „Leidenschaft und Durchhaltevermögen“ bei der Lobby-Arbeit für den Tanz ans Herz – auch wenn er „Dauerläufe immer gehasst habe“.

Dass im ständigen Erklären, im ständigen Propagieren der eigenen Motive und Visionen und in der Absetzung gegenüber den „Etablierten“ die latente Gefahr der Selbstreferentialität lauert, klang aus manch einem Wortbeitrag des Abends unfreiwillig heraus, etwa in Norbert Papes Bericht von der Frankfurter freien Szene. Sie unterscheidet sich dadurch von Stuttgart, dass durch die Hochschulabsolventen und die Zöglinge der angewandten Theaterwissenschaft im nahen Gießen ein reger Nachschub an zeitgenössischen Choreografen, Performern und Bühnenkünstlern fließt, während die vergleichsweise kleine freie Tanzsszene in Stuttgart sich nur noch selten durch unbekannte Namen, frische Denkansätze und ungewohnte Fragestellungen erneuert. Wer an der örtlichen John-Cranko-Schule zu choreografieren beginnt, landet inzwischen meist beim Stuttgarter Ballett, das kreative Kräfte so früh wie möglich an sich bindet; Marco Santi oder Daniela Kurz hatten damals noch den Schritt in die freie Szene gewagt, später Jean-Christophe Blavier und Lior Lev.

Drei der vier „Urgesteine“ und damaligen Gründer des Produktionszentrums waren zum Jubiläum gekommen, einzig die damalige Dramaturgin Bettina Milz fehlte, sie arbeitet heute als Referatsleiterin für Theater, Tanz und Musik in der Kulturabteilung der Düsseldorfer Staatskanzlei. Marco Santi ist jetzt Tanzdirektor am Theater St. Gallen, Kontrabassist Alexander Frangenheim gehört zur freien Musikszene in Berlin, Catarina Mora tanzt, choreografiert und unterrichtet immer noch Flamenco in Stuttgart – diese drei saßen auf dem Sofa und erinnerten sich an die endlosen Sitzungen, Entwürfe, Diskussionen vor zehn Jahren. Und an das großartige Gefühl des Triumphes, schließlich den Probenraum und passende Büro, damals noch in Degerloch, erkämpft zu haben. „Unsere Verschiedenheit war unsere Stärke“, so Frangenheim.

Beschlossen wurde die Feier mit einer Jubiläumsgala, die postwendend den Beweis lieferte, dass im PZ nicht nur der Tanz hier seine Heimat findet, sondern auch Experimente mit Klängen, Projektionen und Worten. Zu erleben war neben einem Ausschnitt aus Christine Chus letzter Choreografie „Ichen“ und der verheißungsvollen Vorschau auf das neue „Macbeth“-Tanztheater von Nina Kurzeja, das im November im Theater Rampe Premiere haben soll, auch ein elektronisches Soundprojekt von Zenit & Nadir. Es arbeitete ebenso mit minimal veränderten Endlosschleifen wie die Performance „I am what I am“ von Bernhard M. Eusterschulte. Arg selbstverliebt wirkte dagegen die Darbietung von Ninel Cam, die Texte auf ihren Körper geschrieben hatte und Lieder darüber sang.

Und noch eine Änderung gibt es zum Jubiläum: gemeinsam mit den freien Theatern der Stadt tritt die freie Tanzszene nun unter dem Titel „teilchenbeschleuniger“ auf. Neuer Name, neues Logo, neue Webseite und neuer Flyer, unterstützt wird das alles von der Stadt, die dafür einen Teil der Gelder für das kleine Rotebühltheater umgewidmet hat, aus dem die freie Szene vor Kurzem ausgezogen ist. Die Suche nach einer eigenen Produktionsstätte, einem festen Theater markiert nun den Aufbruch ins zweite Jahrzehnt.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern