Ein Enzyklopädist der Weltkultur

Horst Koegler: „John Neumeier. Bilder eines Lebens"

Braunschweig, 02/12/2010

John Neumeier hat sein Wirken als Choreograf vermutlich am besten selbst dokumentiert: in den Jubiläumsbänden seiner 10, 20, 30 Jahre als Chef des Hamburg-Balletts und vor allem in seinem Arbeitsbuch „In Bewegung“, das ausführlich und akribisch das dramaturgische Umfeld seines Choreografierens nachzeichnet. Horst Koeglers eben im Edel-Verlag erschiene Biographie will endlich einmal mehr von dem Menschen John Neumeier zeigen, der hinter dem kreativen Kopf und klugen Prinzipal steckt. Eine wichtige Hilfe sind ihm dabei die zahlreichen, teils unveröffentlichten Fotografien, die John Neumeier aus seinem Privatarchiv hervorgeholt hat und hier nun auch selbst kommentiert. Da sieht man also den strahlenden Knaben im amerikanischen Milwaukee am Tag der Erstkommunion, braves Kind einer väterlicherseits deutschen, mütterlicherseits polnischen Auswandererfamilie. Und man sieht den hoffnungsvollen jungen Studenten der katholischen Marquette Universität ebenda, lernt in Pater John J. Walsh einen seiner wichtigsten Mentoren kennen und damit verstehen, wieso sein Schaffen wie Auftreten schon früh diese besondere spirituelle Note bekam, die Neumeier heute in seinen Stehkragenhemden und mit den so intensiv leuchtenden Augen unter dichtem graumeliertem Haar noch stärker verstrahlt.

#Ja, diese großen intensiven Augen über breiten Wangen scheinen schon auf den frühen Fotos Neumeiers Neigung und Gabe zum Tiefblick, zum Durchdringen äußerlicher Zusammenhänge und Entdecken psychologischer Untergründe zu versinnbildlichen. Erhaben schön und konzentriert schaut er im Rollenfoto aus John Crankos Stuttgarter „Jeu de Cartes“ in die Ferne. Sehr richtig bemerkt Koegler, dass hier ein geborener Tänzer für all die Sehnsuchtsprinzen Tschaikowskys zur Verfügung gestanden hätte, doch der strengen Balletthierarchie wegen durfte es der 21-jährige Ensembletänzer nicht sein. In den Werkstattabenden der Noverre-Gesellschaft schafft er seine ersten Choreografien für Tanzkollegen, sechs Jahre später ist er Ballettdirektor in Frankfurt, 1973 dann geht er nach Hamburg. Talent, Intensität, Sehnsucht haben sich durchgesetzt.

Koegler, der die Entwicklung der deutschen Nachkriegs-Tanzlandschaft als Dramaturg und Kritiker begleitet hat und selbst eine lebende Enzyklopädie des Tanzes ist, schildert diese frühen Jahre erfreulich ausführlich. So beschreibt er Neumeiers erste Werke, vergleicht sie mit späteren und ordnet sie in die persönliche und tanzgeschichtliche Entwicklung ein. Davon hätte man sogar gern noch mehr gelesen, aber das hätte den Charakter einer Biographie wohl gesprengt. Für die späteren Phasen der andauernden Hamburger Intendanz wünschte man sich trotzdem manchmal mehr solcher inhaltlichen Deutungen, etwa zu Neumeiers Fassungen der „Matthäus-Passion“ oder des Mozart-Requiems, die „Winterreise“ fehlt ganz.

Brillant ist dann wieder Koeglers Einordnung Neumeiers in die großen Migrationsbewegungen der Ballettgeschichte. Und da steht der Amerikaner mit osteuropäischen Ahnen dann dem von ihm so verehrten russischen Tänzergenie Nijinsky plötzlich wieder ganz nah, dessen Erbe über die Ballets Russes mit George Balanchine nach Amerika kam und nun mit Neumeier wieder nach Europa zurückkehrte. Kein anderer Künstler hat sich wohl je so intensiv mit Werk und Persönlichkeit Nijinskys befasst, vielleicht sogar ein wenig identifiziert. Und eine ähnliche Position als traditionsbewusster Rebell des Tanzes nimmt Neumeier vielleicht heute tatsächlich ein.

Koegler nähert sich dem üppigen Hamburger Oeuvre vonseiten der musikalischen und literarischen Vorlagen. Sehr richtig bezeichnet er Neumeier als „Enzyklopädisten der Weltkultur“. Und arbeitet die vorzüglich dramaturgische Fokussierung Neumeiers heraus: So bekommt bei Neumeier das Genre des dreiteiligen Ballettabends ebenso eine thematische Klammer wie er das Handlungsballett einer konsequenten psychologisierenden Neusicht unterzieht. Die Ballett-Werkstätten verlängern die dramaturgische Durchdringung pädagogisch nach außen aufs Publikum, die Ballettschule wendet sie auf den Nachwuchs. Ergänzt um Sammlung, Stiftung und Museum hat Neumeier hier, da übertreibt Koegler keineswegs, ein einzigartiges Imperium aufgebaut.

Zumindest in den letzten Jahren hat die Stadt Hamburg das auch bemerkt, befestigt, ja gewürdigt. Das Buch zeigt Fotos von der Verleihung der Ehrenbürgerwürde. Und endlich auch die Umarmung durch seinen Lebenspartner, den Mediziner Professor Hermann Reichenspurner.

Gibt es einen Privatmenschen John Neumeier? Koegler hat verschiedentlich Zeugnisse von Mitarbeitern Neumeiers eingeholt. Am bewegendsten äußert sich da vielleicht die ehemalige Solotänzerin Heather Jurgensen: „Für ihn ist alles andere außer seiner Kunst fremd, denn es nimmt ihm etwas von der Hauptsache weg, und das ist die Zeit, die für seine kreative Existenz lebenswichtig ist. Im Ballettsaal fühlt er sich zu Hause, ist er am echtesten er selbst.“

Dem kommt das Buch mit vielen Fotos aus Proben und Aufführungen nahe. Zuletzt mit den packenden Bildern aus Maurice Béjarts „Les Chaises“, in denen Neumeier mit Joelle Boulogne 2008 in der Nijinsky-Gala auftrat - mit 66 Jahren. Zärtlich ruht sein Kopf an der Schulter der sitzenden Partnerin, der Blick ist traumverloren ins Unendliche gerichtet. Die Sehnsucht bleibt, gleich wird er das Spiel wieder aufnehmen, ein glücklicher Sisyphos, Clown Gottes, vergeistigter Komödiant. Das Buch ist eine würdige Würdigung.

Horst Koegler: „John Neumeier. Bilder eines Lebens“. Deutsch und Englisch. Edel-Verlag, 256 Seiten, 100 Abbildungen, 29,95 Euro.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern