Historisches Zeugnis
Das Mariinsky-Ballett gastiert mit Leonid Lawrowskis „Romeo und Julia“ im Festspielhaus Baden-Baden.
Die spektakulären Pas de deux und Divertissements fehlten bei der traditionellen Gala des Mariinsky-Balletts im Baden-Badener Festspielhaus. Virtuos endete das alljährliche, einwöchige Weihnachts-Gastspiel dennoch, zu sehen waren am letzten Abend drei nicht nur historisch interessante Klassiker aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, die bei uns selten bis nie aufgeführt werden. Alberto Alonsos „Carmen“ entstand 1967 im Auftrag von Maja Plissetzkaja, ihr Mann Rodion Schtschedrin schrieb die passende Musik dazu - eine exotisch instrumentierte Bizet-Bearbeitung für Streicher und jede Menge Schlagwerk. Jahrelang war das Stück fest in den Händen des Bolschoi, im St. Petersburger Marientheater wurde es jetzt im April 2010 im Rahmen einer Schtschedrin-Retrospektive ins Programm genommen. Der vor drei Jahren verstorbene Choreograf war Kubaner und Schwager der berühmten Alicia Alonso, die seine „Carmen“ später ebenfalls tanzte.
Der streng abgezirkelte, anti-romantische und fast konstruktivistische Bewegungsstil des Stücks sieht aus wie ein antiker Vorläufer von Mats Ek – kein Wunder, dass die Moskauer Premiere damals einen Skandal verursachte. Nichts fließt oder gleitet hier, es gibt wenig Sprünge und Hebungen, die Beine sind meist gestreckt, oft stehen die Tänzer in den Grundpositionen. Jede Pirouette wird sauber vorbereitet und vollendet, selbst der Port de bras ist so architektonisch sauber geregelt, dass man sich bei allem spanischen Feuer bisweilen an Verkehrspolizisten erinnert fühlt. Über einer halbrunden Arena schwebt ein rotes Tuch mit einem riesigen, stilisierten Stierkopf, die senkrecht in der Mitte geteilten Kostüme der Toreros und Frauen atmen die Mode der damaligen Zeit (die Ausstattung stammt von Boris Messerer, Sohn des Tänzers und Lehrers Asaf Messerer und Cousin von Plissetzkaja).
Uljana Lopatkina, die eigentlich eher für ihre subtile Lyrik so weltberühmt wurde, besitzt durchaus die verführerische Eleganz für eine sinnliche Carmen, faszinierend in ihrer kühlen Berechnung und in der messerscharfen Attacke ihrer langen Beine. Ihr bisher oft recht unscheinbarer Partner Danila Korsuntsev hat in den letzten Jahren sehr gewonnen und ist, wie in seinem Solo als Don José zu sehen war, zum souveränen und eigenständigen Interpreten geworden. Die „Scotch Symphony“ war eines der allerersten Balanchine-Werke, das von der damals noch als Kirov-Ballett firmierenden Truppe Ende der 80er Jahre ins Repertoire übernommen wurde. Zu den letzten drei Sätzen von Mendelssohn Bartholdys „Schottischer Sinfonie“ (der erste inspirierte den Choreografen nicht) fällt das Werk stark aus dem neoklassischen Rahmen: getanzt wird zwar in den bekannten Balanchine’schen Ordnungen, Reihen und Formen, verpackt aber ist das Ganze im romantischen Outfit, in den Kostümen von „La Sylphide“ vor der passenden Waldlichtung.
Angeregt durch einen Besuch des New York City Ballets in Edinburgh tragen die Herren tragen schottische Kilts, die Damen lange blassrosa Tutus; der Großmeister des abstrakten Balletts schreckt hier selbst vor pantomimischen Dialogen zwischen einem Kavalier und einer romantisch herumgeisternden Ballerina nicht zurück. Anfangs springt wie ein schottischer Amor ein Mädchen in Kilt und roter Samtjacke durchs Bild, dann bemüht sich der etwas blasse, aber feine und korrekte Alexander Sergeyev um Anastasia Matvienko. Die Ukrainerin, die vor einem Jahr mit ihrem Mann vom Michailowsky-Theater kam, passt beim Mariinsky-Ballett noch immer nicht ins Bild, weil ihr der feine, lyrische Stil der berühmten Kompanie vollkommen abgeht - sie tanzt vordergründig, sachlich, plastisch, ohne Geheimnis und ohne die subtile Musikalität der großen Mariinsky-Ballerinen.
Im Finale des merkwürdigen Werkes deutet das Corps de ballet mit stilisierten Marschschritten dann noch eine schottische Parade an - selten so gestaunt bei Balanchine. Die „Etuden“ des dänischen Choreografen Harald Lander sind eigentlich eine Lehrstunde des klassischen Balletts, zu instrumentierten Klavierübungen von Carl Czerny dem Aufbau der morgendlichen Ballett-Class nachempfunden und als große Steigerung von den kleinen, trockenen Übungen zu den großen, beeindruckenden Schwierigkeiten aufgebaut. Das Corps de ballet hatte aber keinen guten Tag erwischt, schon bei den anfänglichen Szenen an der Stange bewegte ein Mädchen den Fuß ständig in die andere Richtung. Vladimir Shklyarov und Denis Matvienko waren die Solisten, die mit unzähligen Drehungen, Sprüngen oder Entrechats konkurrieren; nicht ganz perfekt, aber mit Charme und hohen Sprüngen der erstere, sehr viel virtuoser und ein wenig mit dem Hang zum Zirkus statt zur Eleganz der letztere. Souverän zog trotz zwei, drei winziger Irritationen Viktoria Tereshkina als strahlende Primaballerina ihre Kreise, mit der kristallklaren Technik und lupenreinen Schönheit, die noch immer und bei jedem Wiedersehen die Faszination der ehrwürdigen Kompanie ausmacht.
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