Widernatürliche Liaisons?
Am Volkstheater Rostock zeigt Bronislav Roznos zum Abschied vier „Stories4love“
Rostocks Tanztheater attestiert unserer Zeit das „Mephistosyndrom“
So breit gefächert ist Bronislav Roznos’ Bewegungsfundus: Auf den Einstand als neuer Tanztheaterchef in Rostock mit Goldonis „Diener zweier Herren“, einem höchst vergnüglichen Ausflug in die Welt der Commedia dell’arte, folgt eingangs der laufenden Saison der Blick ins menschlich Untergründige. Lange hat er dafür nicht suchen müssen; der Alltag, wie ihn auch und nicht zuletzt die Medien spiegeln, lieferte ihm die Themen. Gewalt in der privaten Beziehung, Aggression gegen das Fremde, Missbrauch von Schutzbefohlenen, Amoklauf, Stalking, die Liste ließe sich noch fortschreiben. Pausenfreie 75 Minuten analysiert Roznos, was er „Mephistosyndrom“ nennt und damit das unkontrollierbare Ausbrechen triebhaften Wollens meint, ohne das Regulativ einer Moral. Dass er dennoch jenem Bösen nicht ungezügeltes Wuchern erlaubt, die vielen Episoden fein gewirkt, bisweilen musiklos leise verknüpft und in ihnen bedrängte Menschen, nicht wabernde Monster zeigt, gibt dem Abend die Qualität einer seiner besten Schöpfungen.
Wie lang der Weg hinaus aus dem Gezwängtsein unserer Emotionen ist, wie verzerrt oft unsere Weltsicht, dafür hat Robert Schrag ein sinnfälliges Bühnenmodell gefunden. Aus sieben Segmenten formt er einen tunnelhaften, nach hinten jäh zusammenstürzenden Schacht, der den agierenden Menschen, je nach Standpunkt, eine eigene Perspektive gibt, größer oder kleiner als real. Wie weiße Segel sind die Seiten klappbar, bei Bedarf transparent. So hat die Sphäre des Eingeschlossenseins doch ein erreichbares Draußen. Zu beiden Seiten des überdachten Orchesters hängen wie Weihwasserbecken verspiegelte „Taschen“ an der schwarzen Wand.
Einzeln in schicker Partykleidung betreten die Tänzer den weiß grundierten Tunnel, entblößen sich bis auf die Unterwäsche. Ein Paar weißt sich aus den „Taschen“ das halbe Gesicht; wenn beide Hälften der gespaltenen Persönlichkeiten zusammenkommen, ergibt das ein uneinheitlich Ganzes. Dann geht Roznos zur Sache. Aus dem angeschrägten Bodens klappt ein Altar, auf dem ein Mann steht, den Silhouetten Tanzender hinter den Wänden zuschaut. Wunschtraum eines anderen Lebens? Als er die Soutane anlegt, folgen ihm seine Schäfchen, lauschen ihm wie einem Popstar. Von Totschlag, wie ihn ein Paar mit sich rötendem Gesicht tanzt, scheint er zu predigen, von Kindern ohne Unschuld. An die seitlich Betenden verteilt er schwarze Augenbinden, legt mit der Soutane auch den Schafspelz eigener Unschuld ab: Zum Kyrie aus Rossinis „Petite Messe Solonnelle“ fasst er einer Frau an Schritt und Brust, nutzt schamlos ihr Geworfensein zwischen Bewunderung und Angst aus; als sie Geborgenheit an seinem Bein sucht, stößt er sie fort, bindet ihr die Hände mit der Soutane, schleudert die Hilflose, während eine Kinderstimme „Torna a Surriento“ singt. Klebeband schließt der Gedemütigten den Mund, im Video umlodern Flammen unter Glockengeläut eine Kirche.
Eine der stärksten Szenen dieser an Bildern reichen Uraufführung. Ein Fremder wird rigid von einer Partygesellschaft ausgestoßen; ein Mann begießt seine Partnerin mit roter Farbe, kommt mit ihr ins Gemenge, sie schmettert ihn gegen die Wand, ihr Blut verklebt am Ende seine Hände. Rammsteins „Feuer frei!“, wütendster unter den Titeln einer Collage hauptsächlich aus Filmmusiken, unterfüttert Amoklauf in einer Gang: Mit Blutfarbe werden im Höhepunkt des Rausches Menschen abgeknallt, ehe das rädelsführende Mädchen wahnhaft auch den eigentlichen Killer tötet und sich selbst gibt, was sie gern bekommen hätte: Streicheleinheiten.
Die Fessel Liebe wird einem Paar zum Verhängnis. Weil er sich den Rotstrick ihrer Zuneigung abstreift und sie zurückweist, zwingt sie ihn auf die Knie und fesselt ihn genüsslich bis zur Strangulation; erst mit dem Leblosen kann sie ihre Erwartung von Liebe leben, ehe beide in der Versenkung verschwinden. Die finale Gluthitze einer Hölle macht aus zerquälten Menschen im Spreizstand auf Knie, Ellbogen, Kopf so abstrakte wie fragile Gebilde; einzeln ziehen sie sich in die Enge des Schlunds zurück, entgleiten dort in eine andere Welt. Die letzte Getreue streicht mit Rot den Fieberzickzack der anderen an der Wand durch, versinkt hinten nur bis zur Brust, ehe das Licht erlischt. Ein Funke Hoffnung in bedrohter Welt? Bronislav Roznos ist mit diesem Bilderbogen der Bedrängnis ein Menetekel gelungen, das sich gänzlich aus dem modernen Tanz entwickelt und ohne jeden Ruch von Plakativität auskommt. Fast nüchtern fügt er die Episoden, zeigt am offenen Kostümwandel, dass für jeden von uns eine Rolle dabei sein könnte. Das trifft.
Wieder 7., 12.11., 16.2., Kartentelefon 0381-381 47 01
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