Gegen das (Ver)schweigen
„Can We Talk About This?“: Lloyd Newsons DV8 Physical Theatre bei der Spielzeit Europa
Wie unterschiedlich zeitgenössischer Tanz gefasst werden kann, zeigten zwei internationale Ensembles bei der spielzeit’europa im Haus der Berliner Festspiele. Nach „Sutra“ 2008 als Dialog zwischen buddhistischer und europäischer Denkweise hatte Sidi Larbi Cherkaoui eine neue Produktion im Gepäck. Wieder ging es um Religion, diesmal jedoch in größerem Kontext, wie ihn das biblisch-sumerische Gleichnis vom Turmbau zu Babel als Rampe für Fragen an die Gegenwart anbietet. In „Babel (words)“ forschten Larbi, sein Co-Choreograf Damien Jalet und die 13 exzellenten Tänzer nach dem Gemeinsamen und Trennenden in einer globalisierten Welt. Dem flämisch-marokkanischen Belgier Cherkaoui folgte mit drei Stücken das Berlin-Debüt des in den USA lebenden Chinesen Shen Wei. Einzig das brillante „Re-(Part II)“ konnte überzeugen.
Angeregt wurde Shen Wei zum Mittelteil eines Triptychons, das Reisen nach Tibet und zur Seidenstraße aufarbeitet, durch den Besuch der Tempel von Angkor. Naturlaute etwa von Vögeln und anderem Getier in den teils noch überdschungelten Anlagen sowie Musik eines Orchesters aus Versehrten der Rote-Khmer-Ära und verstümmelten Minenopfern liefert originale Klangatmosphäre, der Tanz zitiert den bezaubernd reichen Tempelschmuck. Zwölf Tänzer in Reihe werden unter projizierten Ornamentbändern zum bewegten Fries; Großaufnahmen der Ruinen eines der berühmtesten Tempel bilden den Rahmen für Shen Weis Komposition, die Posen aus den plastischen Szenen mit den „göttlichen Tänzerinnen“ einflicht. Was ihm im einleitenden „Rite of Spring“, Fassung für Klavier zu vier Händen, nicht gelingt, ein schlüssiges Gesamtkonzept für seine formalen, wiewohl sehr musikalisch eingesetzten Bewegungsschnipsel zu finden, beherrscht er 2007, knapp vier Jahre später, in „Re-(Part II)“ souverän.
In der größeren Freiheit einer nicht inhaltlich gebundenen Musik lässt sich seine ganzkörperlich geschmeidige Bewegung mit Torsion und Spirale, aus multiplizierten Einzelmotionen und Bodenakrobatik ohne Abstriche genießen. Zum Streicherklang von John Taveners „Tears of Angels“ formt Shen Wei aus Tänzerleibern jenes Wurzelgeflecht nach, das die Ruinen zusammenhält und bedroht, findet in drei Tänzern mit geweißten Körpern eine fantasievoll zeitgemäße Entsprechung zu den Torsi des plastischen Schmucks. Das macht neugierig aufs gesamte Triptychon. Dass Shen Weis freundliche Geste an unsere Stadt wenig Sinnfälliges zu bieten hatte, mag man indes bedauern. In „B.E.R.L.I.N.“ fächert er selbst als Tänzer sein Bewegungsvokabular auf, mäßig angefeuert von Buchstaben und Zahlen, wie sie ihm eine am Rande sitzende Frau zuruft.
Shen Wei nochmals 17., 18.12., 20 Uhr.
Letztes Gastspiel: „Tristi Tropici“, Compagnia Virgilio Sieni, 21.12., 20 Uhr, Haus der Berliner Festspiele, Schaperstr. 24, Charlottenburg,
Kartentelefon 254 89 100, Infos unter www.spielzeiteuropa.de
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