Brillantes Miteinander zweier Künste

Im Haus der Berliner Festspiele triumphiert Sasha Waltz mit „Jagden und Formen“

Berlin, 22/11/2009

Auch den gewaltigen Bühnenraum im Haus der Berliner Festspiele teilen sie sich geschwisterlich, Musik und Tanz. Jeder Sparte steht die Hälfte zu: Links jenseits der Diagonale sitzen die Musiker vom Ensemble Modern, rechts bleibt frei für die Tänzer von Sasha Waltz & Guests. Was beide Gruppen im Vorjahr für das Radialsystem entworfen haben, transponierten sie nun auf die Guckkastenszene. Und erreichen damit fulminante Dichte. Wieviel Musik und Tanz einander zu geben haben und dass gerade moderne Komposition der zeitgenössischen Bewegung Freiräume erschließt, beweist Sasha Waltz mit „Jagden und Formen (Zustand 2008)“ nachdrücklich. Den Titel hat sie von Wolfgang Rihms Konzert übernommen, das der gebürtige Karlsruher des Jahrgangs 1952 seit den 1990ern fortentwickelt und für das er 2001 den Royal Philharmonic Society Award erhielt. Wie phasenversetzt beginnen Streicher: Violinistinnen und Tänzerinnen stehen zugewandt auf der Freifläche, Klang fährt direkt in die Körper, lässt sie rucken, hüpfen. Bisweilen verhalten Posen wie im barocken Tanz. Als die Streicherpassagen nervöser werden, zucken Schultern auf, klappen Hände, pendeln Beine. Streicher scheinen einander zu jagen, von Bläsern gejagt zu werden. Im Staccato reagieren die Körper auf die musikalischen Wechsel, erstarren, knicken ein, erobern den Raum, laufen in Gruppe mit gebreiteten Armen wie Flieger. Die Aufwallungen der Instrumente wollen sie vom Boden lösen.

Es sind anfangs kleine Formationen, mit denen die Choreografie den Klang pariert, noch sind Frauen und Männer getrennt. Renate Graziadei, als einzige Frau in Hosen, ist verbindendes Element zwischen den Geschlechtern. Immer wieder stülpt das Orchester Solisten aus, konfrontiert sie hautnah mit dem Tanz; mehrfach treten ihrerseits die Tänzer durchs Orchester auf, als würde die Bewegung direkt der Musik entspringen. In der Generalpause schweigt auch der Tanz: Frauen liegen in gespannter Seitlage auf dem Boden, Männer ziehen sie aus der Form ab. Sensibel und sparsam geht Waltz mit Rihms Kreation um, nimmt die Figuren der Musik, aufleuchtende Bläser wie eilende Violinen, kommentierend auf, ohne sie tänzerisch zu doppeln. Zu schrillenden Bläsern findet sich ein Paar in skulpturaler Enge, die Frau in einem Trio wird wie ein Pfeil zum anderen Mann hin geschossen, ehe alle im Vorwärtsstreben verharren.

Was verhalten begann, steigert sich im Verlauf der 60 Minuten zu immer dichterem Miteinander. Musiker werden getragen, finden sich in drehendem Taumel mit den Tänzern, liegen gemeinsam wie erschöpft auf dem Boden. Zuvor hatte der Tanz seine stärksten solistischen Momente: in Renate Graziadeis großartig präzisem Solo voller Spiralen und Wendungen, Nicola Mascias und Jiri Bartovanec’ Duett der Durchdringungen und Dominanzen. Zum Berg aus Leibern türmt sich die Gruppe, Klang erzeugt kraterähnliche Einschläge, treibt den Tanz in Hast. Der reagiert mit Kampf und Aggression, drei Akteure brechen nach Tobanfällen zusammen, die anderen ziehen sich erschrocken von den Jagdopfern zurück, die Musik ist bereits verebbt. In „Impromptus“ nach Franz Schubert als Reminiszenz setzt sich Sasha Waltz’ Auseinandersetzung mit Musik bei den Festspielen fort.

16.+17., 19.+20.12., 20 Uhr, Haus der Berliner Festspiele, Schaperstr. 24, Berlin-Charlottenburg

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