Welt vs. Kirche
Ein Fotoblog von Ursula Kaufmann
Eine ganz andere Handschrift zeigt Annett Göhre jetzt in Gelsenkirchen in ihren „Goldfisch-Variationen“ als vor knapp zwei Jahren am Beginn des Kulturhauptstadtjahres RUHR2010. Damals beeindruckte die Tänzerin und Choreografin in der St. Georgs-Kirche mit einem zweiteiligen getanzten Musiktheater-Programm, das 400 Jahre Operngeschichte umspannte. Kompositionen Monteverdis, zusammengefügt unter dem Titel „Lamenti über Liebe und Tod“ für Sopran und Orchester, choreografierte sie mit den Tänzern des „Ballett Schindowski“ als hochsensible Duette, Solos und Ensembles. Morton Feldman’s Einakter „Neither“ dagegen konterkarierte sie mit einem surrealistischen Video aus Tänzer-Gesichtern in Nahaufnahme, Gliedmaßen, Kleiderfetzen, verschwommenen Gesten und Posen. Wie die Zärtlichkeit und Melancholie in Monteverdis Musik so fing sie Feldman’s raumgreifenden, schwebenden Klang superb ein.
Nun also gab’s zum Auftakt der Interim-Saison zwischen Bernd Schindowskis Abschied und Bridget Breiners offiziellem Start als Chefin des „Ballett im Revier“ mit Beginn der Saison 2012/13, im Kleinen Haus des „MiR“ (Musiktheater im Revier) die Uraufführung ihres Tanzstücks „Goldfisch-Variationen“ mit demselben 13-köpfigen Ensemble, ergänzt durch einen (Papp-)Goldfisch in seinem runden „Glashaus“.
Der augenzwinkernd witzige Titel hält, was er verspricht: Scherz, Satire, Ironie - und kaum tiefere Bedeutung. Bachs „Goldberg-Variationen“ haben den amerikanischen Jazz-Pianisten und Komponisten Uri Caine in seinen „The Goldberg-Variations“ zu stolzen 70 Variationen animiert. In einem Parforceritt blättert er die Musikgeschichte bis zum 21. Jahrhundert auf. Göhre hat sich rund die Hälfte davon ausgesucht und präsentiert dazu Tanzminiaturen in der effektvollen Ausstattung ihres polnischen Dramaturgen Jan Adamiak (Kostüme: Andreas Meyer). Repetitor Salvador Caro darf Bachs zarte „Aria“ zu Beginn und ganz am Ende spielen, wird dazwischen aber meist von der Musikkonserve ersetzt, so dass er mal quer über die Bühne schreitet oder mal die Konfettischnipsel wegfegen hilft, die Mami Iwai, aus der Versenkung auftauchend, mit verschmitztem Grinsen aus der Pistole geschossen hat. Die kleine Japanerin ist, wie auch die Amerikanerin Ruth Olga Sherman und der Russe Pavel Roudov, immer wieder für einen Scherz zu haben, während die schöne Alina Köppen in roter Robe mit exaltiertem Hüftschwung und Augenaufschlag ganz Diva mimt.
Überhaupt ist es ein Riesenspaß, diese Tänzer und Tänzerinnen von ganz neuen Seiten kennen zu lernen. Köstlich die Italienerin Priscilla Fiuza in „Signboard“ mit bedruckten Holzplanken voller Unwahrheiten über sich selbst. Oder der sonst maskenhaft ernste Taiwanese Min-Hung Hsieh überraschend cool und köstlich selbstironisch in Nr. 14 „Mins Seven“.
In zwei der schönsten Szenen erinnert Göhre an Pina Bausch: „For Pina“ zitiert deren legendäre „Nelken“. In der prallen Tango-Nummer wabern Nebelschwaden über den Boden. Sechs Tänzer in Glockenrock-Kleidern rutschen auf Knien hindurch, weiße Nelken zwischen den Zähnen, die sie schließlich dem Goldfisch ins nasse Element reichen. Gleich danach darf das Tierchen sich auf den letzten Stuhl in die Rampenriege reihen. Nur bleibt es stumm wie..., während die anderen aus ihrem Leben plaudern.
Originell wirken der „Robotdance“ und die beiden ähnlich marionettenhaften Tänzchen auf Bachs „Aria“. Hatten sich die unter dem roten Samtvorhang verborgenen, reglos ausgestreckten Tänzer zu Beginn langsam und steif wie Puppen erhoben, gefrieren sie am Ende plötzlich, als sei die Walze der Spieluhr abgelaufen. Das ist zwar recht raffiniert konzipiert, das Publikum jedoch war zunächst verblüfft, spendete dann aber herzlichen Applaus.
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