Ich versuche, die Leere zu finden
Der Choreograf Marco Goecke über „Orlando“, seine Karriere und das Weglassen
Die Fangemeinde von Marco Goeckes „Orlando“ mag vorerst in ihrer Größe nicht der von Crankos Handlungsballetten entsprechen, aber nach der einzigen Aufführung der Spielzeit bei den Festwochen war dieser harte Kern mindestens genauso beseelt wie die Titelfigur und ihr Tänzer Friedemann Vogel am Schluss des außergewöhnlichen Werkes. Denn bei aller Absonderlichkeit gegenüber dem, was wir gemeinhin unter einem „normalen“ erzählenden Ballett verstehen, schwingt in dem zweieinhalbstündigen Werk, verborgen irgendwo in Goeckes ausuferndem Bewegungsreichtum und dramaturgischem Minimalismus, die Ahnung eines Geniestreiches mit – das Wissen, es mit bahnbrechender Tanzkunst, einem Schritt ins Unbekannte, nie Gesehene zu tun zu haben. Vielleicht das erste Mal, seit William Forsythe in Stuttgart gearbeitet hat.
Wenn man etwas lernen kann bei der mehrfachen Begegnung mit dem komplizierten Stück, dann sich nicht ganz einlullen zu lassen von der Magie der tanzenden Hände, von Goeckes hochsensibler, niemals platter Musikalität, sondern immer noch genauer hinzuschauen auf den unendlichen Reichtum der Assoziationen. Es gibt noch keine Seh-Anleitung für diesen neuartigen Stil: Versteht man ihn besser, indem man die Anspielungen zu deuten versucht – Hände als fliegende Vögel, zum Abschied winkende Hände, das symbolische Darreichen des eigenen Herzens, den Lauf durch die Zeit etc. – oder sollte man die hypnotische Sprache der Hände besser rein ästhetisch auf sich wirken lassen? Gibt es einen Mittelweg, kann man Ballett assoziativ verstehen, ist das Goeckes Geheimnis?
Der Choreograf verlagert die bisher gewohnte Balance des Handlungsballetts: weg von der in großen Bewegungen deutlich gezeigten, in einfachen und durchgängigen Symbolen strukturierten Geschichte, hin zu einem Minimalismus des Erzählens in kleinen und kleinsten Einheiten. Die erkennbare Handlung ist auf minimale Ereignisse reduziert – ein Nebeneinanderstehen, ein Kuss auf den Hals, ein Nach-vorne-Kippen des Kopfes bei einem stehenden Menschen als Zeichen, dass er eingeschlafen ist, das Umeinander-Kreiseln der Hauptperson mit den Figuren, die ihn beeinflussen. Wesentlich beredter läuft gleichzeitig in Goeckes ureigenster Sprache eine Art Kommentar ab, indem die Hände die Person umspielen. Dabei ist es manchmal erstaunlich, wie viel Klassik doch noch drinsteckt in diesem sehr speziellen Vokabular, in den gestreckten Beinen, einer Drehung mit schön angelegtem Bein, in einer bei aller nervösen Spannung klassisch grundierten Haltung der Tänzer. Goecke jongliert aber nicht einfach wie ein Artist mit dem klassischen Vokabular, er setzt es nicht einfach neu zusammen oder treibt es ins turboschnelle Extrem wie zum Beispiel Edouard Lock, sondern er verwandelt es, sublimiert es in seine eigene Sprache hinein, eher die feine Haltung des klassischen Stils anstatt der sauber ausgeführten Grundschritte der Danse d’école. Faszinierend auch seine Kunst, die Kleinstelemente beliebig zu be- und entschleunigen, sie auf die Seite zu kippen oder zu spiegeln, früher Getanztes und damit bereits Erlebtes ironisch zu überspitzen, um zu zeigen, dass Orlando es verarbeitet hat oder darüber lacht. Und alles immer mit größter Leichtigkeit auf die Musik, dabei ist der Überfluss an immer neuen Bewegungen und ihre virtuose Kombination schon rein handwerklich verblüffend. Noch immer wirkt der zweite Teil des Stücks dramatischer, immer wieder sorgt Michael Tippetts reiche und so unterschiedliche Musik für neue Stimmungen und Färbungen.
Steht zu hoffen, dass man das wertvolle Stück in Stuttgart nicht aus den Augen verliert, damit es kein vergessenes Ballett wird wie zum Beispiel Forsythes „Orpheus“.
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