Wippen in Blau
Auftakt des Festivals tanz nrw 2023 in Mühlheim an der Ruhr
Es mag ja Zufall sein, dass in der Eingangsszene von Rafaële Giovanolas neuem Tanzstück „I’ve seen it all“ eine Tänzerin in der wohl berühmtesten Sitzpose der Tanzgeschichte auf dem Boden kauert. Da Vaslav Nijinskys Tanzklassiker „L’Après-midi d’un faune“ von 1912 aber voller sexueller Bezüge bis hin zur Masturbation ist, scheint diese Anspielung beabsichtigt. Dunkel und düster liegt der Bühnenraum im Bonner Theater im Ballsaal. Nur vorsichtig tastend findet man zu einem der Plätze, die um die Bühne herum angeordnet sind: Einblick von allen Seiten. Keiner wird sagen können, er hätte nichts mitbekommen.
Das Tanzstück von Rafaële Giovanola um familiären Inzest und sexuelle Gewalt beginnt akustisch: Sich entfernende Frauenschritte. Eine Tür fällt ins Schloss. Eine Fliege summt wie gefangen. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Die Vorgänge spielen sich direkt vor unseren Augen ab. Nicht in konkreten Bildern. Nichts, was den Zuschauer zum Voyeur machen würde. Viel schlimmer noch: Durch die Anordnung der Plätze, durch das Geschehen direkt vor seinen Füßen wird er zum Mitwisser. Kein Ausweichen ist möglich, wenn ein Mann den zappelnden Frauenkörper um sich schleudert, zu Boden drückt. Oder wenn in einem Duett die Frau immer nur wegstrebt, während der Mann sie festzuhalten, heranzuziehen versucht.
Die Inszenierung verstärkt die beklemmende Situation für das Publikum noch und mischt die sechs Tänzerinnen und Tänzer zwischen die Zuschauer, die damit noch tiefer in das komplexe Geflecht einer Dreiecks-Beziehung von Vater, Mutter, Tochter hineingezogen werden. Die wechselnden Lichtkreise in der Düsternis, auf die sich die Frauen zeitweise zurückziehen, scheinen die letzten Fluchtpunkte. Immer wieder reißen die Frauen an ihrer Kleidung, streichen mit einer unausgesprochenen Frage über ihre Körper: Warum? Doch auch im gleißenden Spot des Lichts kommt es zu Übergriffen, als wolle die Choreografin sagen: Jeder hätte es sehen können.
Auf allen Ebenen arbeitet die Inszenierung mit dieser subtilen Durchmischung, diesem Sowohl-Als-Auch, diesen Doppelungen. Jeder kann Täter, jeder Opfer sein. Das wird nicht explizit benannt, sondert schimmert wie aus einer unbenennbaren, schrecklichen Zwischenwelt ständig durch. Klaustrophobisch verstärkt wird die Szenerie durch eine kalte Frauenstimme aus dem Off. Immer wieder wird ein Dialog aus Eraserhead, David Lynchs psychedelisch-horrorartigem Film von 1977 wiederholt: „What do you do?“ – „Was tust du?“, „Henry, bist du es?“.
Das Durcheinander der Gefühle wird noch forciert durch ein irritierendes akustisches Gefährt, das der Composer Jörg Ritzenhoff über die Bühne steuert, und mit dem er verstörendes Flüstern, Rascheln und Schreien, die sich bis zu einer Kakophonie der Geräusche steigern, noch in die letzte Ecke des Saals bringt. Schwarz, traumatisch, voll exzessivem Tanz und akustischem Overkill durchmisst die Inszenierung die ganze Landschaft der Gefühle. Und so wirbeln die Arme, fliegen die Körper, vermengen sich vier Arme mit zuckenden Körpern, werden Umarmungen zu Abwehr und Widerstand. Es ist wahrlich eine albtraumähnliche Szenerie, die Rafaële Giovanola mit ihrem Team um Dramaturg Rainald Endraß, dem Lichtdesigner Marc Brodeur und Composer Jörg Ritzenhoff hier ausbreitet.
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