„Chora“ von CocoonDance / Rafaële Giovanola

Entdeckung des Raums

CocoonDance mit „Chora“ in der Tanzfaktur Köln

Rafaële Giovanola erhält den italienischen D&D Award in der Kategorie Choreografie. Warum, zeigt sie gerade noch mal auf fast schelmische Weise.

Köln, 15/03/2025

Eigentlich führt sie ihr Publikum aufs Glatteis. Und das noch ganz charmant dazu. Vor der Vorstellung steht Rafaële Giovanola, ihres Zeichens Leiterin der Company CocoonDance in Bonn, vor dem großen Tor der Werkshalle, in der die Tanzfaktur Köln zuhause ist. Das Publikum, so erklärt sie allen mit sanftem Lächeln, habe bei dieser Vorstellung eine ganz besondere Aufgabe. Hinschauen, hinhören solle man bei „Chora“. Um das zu tun, sind zwar alle gekommen, aber sie meint es noch aktiver. Es gibt hier keine räumliche Trennung zwischen Performer*innen und Publikum. Sie lädt alle ein, diesen Raum aktiv zu erkunden, ohne falsche Scheu. Es gebe kein Falsch oder Richtig. Und dann nennt sie das einen nonerratic space. Das stimmt aber überhaupt nicht. Berechenbar ist hier nämlich gar nichts. 

Stattdessen erscheint der Raum nur auf den ersten Blick übersichtlich. Die üblichen vertikalen Stahlträger an den Seiten, in der Mitte schwarzer Tanzboden und im Zentrum ein leicht erhöhtes, großzügiges Podest. Beim Betreten des Saals stehen sieben Tänzer*innen teils vereinzelt im Raum, laufen langsam umher, manche lehnen entspannt an der Wand. So offen und freundlich das alles wirkt, zeigt dieser Raum erst ganz langsam seine wirkliche Komplexität. Das vermeintlich unauffällige Licht variiert ganz leicht zwischen heller und dunkler; aus den Boxen rutschen leise Geräusche, die man zu kennen meint, die aber uneindeutig bleiben. Vielleicht ein Windrauschen, dann aber eindeutig Musik aus der Ecke easy listening.

Der Raum bleibt ohne zentralen Fokus und in ständigem Wandel. Bis ein einzelner Spot dann doch die Aufmerksamkeit und damit auch die Bewegungen der Zuschauer*innen auf einen Punkt ausrichtet. So lässig wie das Publikum ist auch die Performance. In slow motion improvisieren sich die Tänzer*innen um die Anwesenden herum, die in ihrer Reaktion teilweise in der Bewegung verharren. Bloß nichts falsch machen! So einfach ist das mit der Eroberung des Raumes dann also doch nicht ganz. Und es ist in solchen Arbeiten immer wieder ergötzlich, das Publikum beim Beobachten zu beobachten.

Versteckte Dramaturgie

Neben dem Nachdenken über Fokusmöglichkeiten ist es in jedem Moment der Raum und Raum an sich, der befragt wird. Zwischen Nähe und Distanz suchen und finden die Performer*innen die Lücken und wirken mal wie Tetris-Teile, die sich „korrekt“ einpassen, mal wie Messinstrumente, die abtasten, wo die Grenzen liegen. 

Erkenntnisse werden dabei untergraben und gelten nur für den Moment, wenn die Verteilungen im Raum beständig variieren. Es gibt hier keine Gewissheit. Plötzliches komplettes Dunkel, nur kurz, wummerndes Stampfen aus den Boxen. Dann deutlich erhöhte Geschwindigkeit in den Bewegungen. Nonspecific wohl eher als nonerratic. 

Die Besonderheit von „Chora“ (Premiere war 2023 in der Schweiz) liegt ganz eindeutig auf dem Zusammenspiel der Performance mit dem Licht und den Sounds in einem klar abgegrenzten Raum. Das erweitert eine simple Open-Air-Improvisation inmitten des Publikums zu einem offenen, unvorhersehbaren Gefüge, dessen Parameter sich permanent verschieben. 

Eine dünne Lichtlinie scheint schließlich Performer*innen und Publikum voneinander zu trennen. Zumindest bleiben alle Besucher*innen auf der einen Seite und schauen wie auf die klassische vierte Wand. Die Macht der Gewohnheit? Die Linie verbreitert sich, wird zu einem hellen Feld, in das sich ganz langsam hineinperformen lässt. Und immer weiter Sounds, die keiner erkennbaren Dramaturgie zu folgen scheinen. Das fordert heraus: Vereinzelt stehen Besucher*innen im Austausch über das Wahrgenommene. Im übertragenen Sinn ist es hier unmöglich, sich nicht zu positionieren. 

Dieser Variantenreichtum birgt noch einige Spielereien im Detail, die zu erleben sich wirklich lohnt und die man nicht unbedingt spoilern sollte. Denn alles kommt so uneindeutig daher, dass sich trefflich darüber plaudern lässt. Nach der Vorstellung in der Tanzfaktur steht das Publikum noch eine ganze Weile deutlich begeistert auf dem schwarzen Tanzboden, vertieft ins Gespräch. Rafaële Giovanola hat sich da schon ihren Rucksack geschnappt und ist auf dem Weg zum Ausgang. Immer noch mit diesem Lächeln.

 

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