Ein wirklicher Stuttgarter Tänzer
Zum Ende der Bühnenkarriere des Stuttgarter Ersten Solisten Tamas Detrich
„Man fängt beim Stuttgarter Ballett immer mit John Cranko an, aber vor ihm haben es natürlich andere auch schon aufgebaut“. Georgette Tsinguirides muss es wissen, die 82-jährige Choreologin ist das einzige Mitglied der Kompanie, das schon vor Cranko hier war. Mit einem dreiwöchigen Tanzmarathon feiert das Stuttgarter Ballett im Februar sein 50-jähriges Jubiläum - gerechnet wird vom Jahr 1961 an, als der südafrikanische Choreograf John Cranko seinen Vertrag als Direktor beim Ballett der Württembergischen Staatstheater antrat. Mit ihm begann eine Kontinuität des Repertoires, der Qualität und des internationalen Renommees, die über seine drei Nachfolger bis heute praktisch unverändert anhält - eine Seltenheit in der wechselvollen Welt des Theaters und der Tanzkunst.
Bereits um 1600 gab es in Stuttgart einen Hofballettmeister, der die Tanzeinlagen in den Opern entwarf, und in dieser untergeordneten Rolle verharrte die Tanzkunst denn auch jahrhundertelang, wie an fast allen großen Opernhäusern. Wenige Jahre lang machte der Franzose Jean-Georges Noverre in der Mitte des 18. Jahrhunderts Stuttgart zum Zentrum der europäischen Ballettwelt, ein Vorläufer Crankos insofern, als er am Hof von Herzog Carl Eugen das Ballett vom reinen Divertissement in Richtung Handlungsballett reformierte. Er war ein singuläres Ereignis, genau wie Filippo Taglionis kurzes Gastspiel um 1825 oder Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“ 1922: das Ballett blieb Anhängsel der Oper und bekam, lange Jahre eine moralisch suspekte Kunst, nur ab und zu einen eigenen Abend zugestanden. Die ersten Klassiker wie „Coppélia“ tauchten in den 20er Jahren auf, Ballettdirektoren wie Mascha Lidolt, Anneliese Mörike, Bernard Wosien und Robert Mayer bemühten sich von 1940 an um eine Konsolidierung der kleinen Kompanie.
Nach dem Krieg brachten zahlreiche internationale Gastspiele, zum Beispiel das New York City Ballet, einen Hauch der großen, weiten Ballettwelt nach Stuttgart, der entscheidende Schritt aber war 1957 die Berufung des Russen Nicholas Beriozoff zum Ballettdirektor. Walter Erich Schäfer, der große Generalintendant der Nachkriegszeit, hatte ihn engagiert, rasch brachte Beriozoff die großen Klassiker wie „Dornröschen“ oder „Schwanensee“ heraus. Und holte seinen Nachfolger selbst ins Haus: Er lud den jungen John Cranko ein, um Benjamin Brittens „Pagodenprinz“ einzustudieren – Cranko hatte 1957 die Uraufführung fürs Royal Ballet kreiert. Schäfer war begeistert von dem 33-jährigen Choreografen.
Am 16.1.1961, nur zehn Wochen nach seiner ersten Stuttgarter Premiere, wurde Cranko Ballettdirektor. Er verließ London nicht ungern: eine unglückliche Liebesbeziehung, öffentliche Angriffe wegen seiner Homosexualität und Selbstzweifel an seiner Kreativität ließen den Aufbruch in ein neues Land, in eine neue Schaffensphase verheißungsvoll erscheinen. Selbst wenn es die schwäbische Provinz war: Ballettgeschichtlich gesehen sei Deutschland „Neuland, das auf seine Erschließung warte“, so Cranko zu Schäfer. Und also erschloss er. Innerhalb weniger Jahre schuf er das „Stuttgarter Ballettwunder“: Er engagierte eine Schar blutjunger Anfänger und baute sie zu großartigen Tänzern auf, er machte gegen den entschiedenen Willen seines Intendanten eine völlig unbekannte und dezent übergewichtige Brasilianerin namens Marcia Haydée zu seiner Primaballerina, die das selbst nicht fassen konnte, er brachte nacheinander seine drei großen Klassiker „Romeo und Julia“, „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“ auf die Bühne.
„Die Entstehung der Ballette im Ballettsaal war wirklich so, wie sie es später in New York genannt haben: ‘Stuttgart Ballet Miracle‘ - da sind dann tatsächlich diese kleinen Wunder passiert, und plötzlich war ein unglaublicher Pas de deux fertig“, berichtet Georgette Tsinguirides, noch heute leuchten ihre Augen. Birgit Keil, Richard Cragun, Egon Madsen, Heinz Clauss, Ray Barra und Susanne Hanke hießen die damaligen Stars, Cranko choreografierte ihnen wunderbare Rollen auf den Leib und zeigte sie bei den Tourneen des Stuttgarter Balletts in der ganzen Welt herum. 1971 eröffnete er eine eigene Ballettschule am Staatstheater, die nach seinem Tod nach ihm benannt wurde und heute zu den renommiertesten der Welt gehört.
Schon John Cranko aber, der als Ballettdirektor und Chefchoreograf in jeder Spielzeit mehrere Stücke für seine Kompanie kreierte, etablierte eine Pluralität der Stile in Stuttgart. Nicht nur förderte er mit Hilfe der bereits bestehenden Noverre-Gesellschaft choreografische Nachwuchstalente wie die beiden Gruppentänzer John Neumeier und Jiří Kylián, er holte auch andere Choreografen nach Stuttgart, um dem Publikum neben seinen eigenen Werken andere Handschriften zu zeigen. Schon in seiner allerersten Stuttgarter Premiere wurde ein Werk seines Londoner Freundes und Kollegen Kenneth MacMillan gezeigt, der später „Das Lied von der Erde“ für die Kompanie schuf, Cranko brachte Werke von George Balanchine und Peter Wright ins Repertoire. Sogar den großen Jerome Robbins kündigte die Spielzeitvorschau für 1973/74 an – allein, es sollte alles anders kommen.
Der Urheber und Magier des Stuttgarter Ballettwunders starb am 26. Juni 1973, gerade 45 Jahre alt, auf dem Rückflug von einer weiteren USA-Tournee, als er sich im Flugzeug übergeben musste und dabei erstickte. Nicht nur seine Kompanie, ganz Stuttgart stand unter Schock. Unter dem Eindruck der großen Trauer schuf der amerikanische Choreograf Glen Tetley im Winter des Jahres sein Ballett „Voluntaries“ und erklärte sich bereit, Crankos Nachfolge als Direktor anzutreten. Seine neuen Ballette aber waren moderner und abstrakter, sie forderten das Publikum mehr, das bald darauf um seine geliebten Handlungsballette zu fürchten begann. Das führte zur Gründung der John-Cranko-Gesellschaft, einer zweiten und ebenfalls bis heute bestehenden Vereinigung von Ballettfreunden. Bald merkte Tetley, dass sein Stil und Stuttgart nicht zusammenpassten, 1976 trat er zurück und Crankos Muse Marcia Haydée übernahm die Leitung der Kompanie, unterstützt von ihren Kollegen.
Keiner der Stars verließ Stuttgart, obwohl es sicher gute Angebote von anderen Kompanien gab. Alle halfen mit, das große Erbe zu bewahren. Zwanzig Jahre lang leitete Haydée die Kompanie und schlug ganz im Sinne ihres künstlerischen Ziehvaters den Weg ein, den Reid Anderson noch heute beschreitet: Die Basis des Repertoires bilden Crankos Klassiker, zu denen ein weiterer, großer Vorrat von Werken kommt, die für die Stuttgarter Kompanie entstanden sind. Daneben wird das klassisch-romantische Ballett gepflegt, vielleicht nicht so intensiv wie in München, wo man auch seltenere Petipa-Werke spielt, aber mit regelmäßigen Aufführungen von „Giselle“, „Schwanensee“ oder „La Sylphide“.
Wichtiger sind in Stuttgart die Uraufführungen. Unter Haydée kreierten Jiří Kylián und William Forsythe neue Stücke, John Neumeier schuf 1978 für sie seine berühmte „Kameliendame“, heute genauso ein Klassiker des internationalen Ballettrepertoires wie Crankos „Onegin“, der an fast allen großen Kompanien nachgetanzt wurde. All die herangewachsenen Choreografen gingen weg und wurden hochberühmt, sie gründete eigene Kompanien oder übernahmen andere Opernballettkompanien in Deutschland, viele von ihnen in sehr jungen Jahren. Uwe Scholz, Renato Zanella, Daniela Kurz oder Marco Santi kamen dazu, kürzlich schlug Eric Gauthier denselben Weg ein, nächstes Jahr wird Christian Spuck nach Zürich gehen.
Dennoch fing das Stuttgarter Ballett jeden dieser Verluste wieder auf, fand bis heute immer wieder neue Talente in den eigenen Reihen. Marcia Haydée förderte nicht nur den Nachwuchs, sie holte auch zahlreiche Werke von Maurice Béjart und Hans van Manen nach Stuttgart. Der Franzose und der Holländer prägten in den 80er Jahren das Repertoire, der eine mit seinen philosophisch-theatralischen Spektakeln, der andere mit kühl-eleganter, eher abstrakter Neoklassik.
Charismatische Tänzer dieser Zeit waren neben der weiterhin strahlenden Birgit Keil nun jüngere Stars wie Tamas Detrich, Annie Mayet, Wolfgang Stollwitzer, Randy Diamond oder Benito Marcelino - und immer noch Richard Cragun, Haydées langjähriger Partner, für den sie nicht nur das turbulente Stepptanz-Musical „On Your Toes“ aufs Programm setzte, sondern auch 1987, als er bereits 43 Jahre alt war, noch einmal eine großartige Rolle choreografierte: die böse Fee Carabosse in ihrem „Dornröschen“. Mit der frühlingshellen Ausstattung von Jürgen Rose ist diese prachtvolle Klassikerinszenierung zu einem weiteren Signaturstück der Kompanie geworden.
Anfang der 90er aber wurde die große Haydée müde, die Qualität der Uraufführungen stagnierte. Choreografen wie Renato Zanella, Marco Santi oder Roberto de Oliveira schufen mäßig spannende und einige missratene Werke, außerdem stand die Direktorin vor der Aufgabe, viele ihrer langjährigen Kollegen und Zöglinge aus Altersgründen entlassen zu müssen. Sie kündigte stattdessen ihren eigenen Rückzug an und aus Kanada kam Reid Anderson zurück, früher ebenfalls Erster Solist der Kompanie und einer von Crankos besten Freunden. Er war mit seinem Partner Dieter Gräfe, der die mittlerweile äußerst lukrativen Rechte an Crankos Balletten geerbt hatte, 1985 nach Kanada gegangen und dort bald Direktor verschiedener Kompanien geworden, zuletzt des National Ballet of Canada.
Mit Anderson startete das Stuttgarter Ballett neu durch. Nicht nur brachte er Tänzerstars wie Vladimir Malakhov, Robert Tewsley, Yseult Lendvai oder Margaret Illmann mit, nicht nur erweiterte er das Repertoire und holte wichtige Stücke von George Balanchine und Jerome Robbins nach Stuttgart, er besitzt auch ein scharfes Auge für begabte Choreografen. Als es anfangs bei der Noverre-Gesellschaft keine echten Entdeckungen hab, holte er Mauro Bigonzetti aus Italien, Wayne McGregor aus England oder den Israeli Itzik Galili, aber schon bald kam der Nachwuchs mittels der Noverre-Abende wieder aus den eigenen Reihen.
Christian Spuck schuf 1998 sein erstes Auftragswerk für die Kompanie und bescherte ihr mit seiner „Lulu“ nach Frank Wedekind 2003 einen Sensationserfolg. Vor sechs Jahren dann band Anderson den jungen Wuppertaler Marco Goecke fest ans Haus, kurz bevor dessen ungewöhnlicher, nervöser Choreografiestil ihn zum begehrten Shooting-Star an den europäischen Ballettkompanien machte. Wo andere Kompanien mühsam den Choreografen-Nachwuchs in den eigenen Reihen päppeln, da steht er in Stuttgart Schlange: mit Douglas Lee, Demis Volpi und Bridget Breiner gibt es schon wieder drei Anwärter. Anderson trägt heute den Titel Ballettintendant und hat damit, aufbauend auf Haydées großen Vorleistungen, die vollständige Unabhängigkeit der Ballettkompanie von der Oper gewonnen.
Noch immer findet man in Stuttgart den ganz besonderen Typus des Cranko-Tänzers, bei dem eine intensive Persönlichkeit und die darstellerischen Fähigkeiten so wichtig sind wie eine gute Technik. „Das ist immer noch Crankos Kompanie“, sagte Anderson unlängst bei einem „Blick hinter die Kulissen“ im Kammertheater. Der Kanadier ist ein Ballettdirektor, an dessen Arbeit sich jüngere Kollegen weltweit orientieren. Das Stuttgarter Ballett hat kein Repertoire, es hat eine Identität – sie besteht neben den vielen großen Balletten, die im Staatstheater uraufgeführt wurden und von hier aus ins Welterbe des klassischen Tanzes eingegangen sind, aus der Atmosphäre, dem Stil, der Umgangsart, die John Cranko einst hier etabliert hat: „Wir versuchen immer, das Familiäre aufrechtzuerhalten, dass die Leute zusammenhalten“, beschreibt Georgette Tsinguirides diesen Gedanken.
Zur Stuttgarter Ballettidentität gehört aber auch das kundige, neugierige und offene Publikum, das sich stetig erneuert und der Ballettsparte seit vielen Jahren die beste Auslastung am Staatstheater garantiert (obwohl sie mit die teuersten Ballett-Eintrittspreise in ganz Europa verlangt). Die Stuttgarter Ballettzuschauer lieben ihre Kompanie heiß und innig, schauen aber auch gerne über den Tellerrand hinaus und machen Stuttgart weiterhin zur Balletthauptstadt Deutschlands.
Die Festwochen dauern vom 4. bis 27. Februar.
Infos unter www.stuttgart-ballet.de
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