Johns Geist

Birgit Keil, Richard Cragun, Ray Barra und Georgette Tsinguirides erinnern sich

Stuttgart, 08/02/2011

Wenn es stimmt, dass eine Person in den Erinnerungen der anderen fortlebt, dann war John Cranko an diesem Nachmittag im Raum. Der zweite „Rückblick“ auf die Geschichte des Stuttgarter Balletts war im Kammertheater ein Familientreffen voller Anekdoten, Gelächter und auch ein paar Tränen, von einem hingerissen lauschenden Publikum mit genau derselben Liebe begleitet, die es seinen Stars damals vor 30, 40, 50 Jahren entgegengebracht hatte. Zum Jubiläum waren auch diejenigen nach Stuttgart gekommen, die lange nicht mehr da waren oder aus verschiedenen Gründen Abstand vom Stuttgarter Opernhaus gehalten hatten. Jeder einzelne von ihnen wurde mit Bravo-Rufen begrüßt; auf dem Podium im Kammertheater saßen neben Choreologin Georgette Tsinguirides, einer „Ikone des Stuttgarter Balletts“ (Reid Anderson), der Amerikaner Ray Barra – John Crankos erster Romeo und Onegin, im Januar gerade 81 Jahre alt geworden – sowie mit Birgit Keil und Richard Cragun zwei der vier „Initialen“ Crankos.

Am längsten von ihnen ist Tsinguirides beim Stuttgarter Ballett, nämlich seit Dezember 1945. Sie wurde als 17-jährige von Anneliese Mörike engagiert, der ersten Ballettmeisterin nach dem Krieg. Barra kam 1958 vom ABT, das damals ein Jahr Pause machte, weil bei einer Tournee die Kulissen und Kostüme verbrannt waren; „Papa“ Beriozoff, Crankos Vorgänger, hatte ihn engagiert. Beriozoff war es auch, der der elfjährigen Birgit Keil ein Solo in seinem „Dornröschen“-Blumenwalzer gegeben hatte, denn auch sie „war schon da“, so beschrieb die heutige Karlsruher Ballettdirektorin den außergewöhnlichen Start einer außergewöhnlichen Karriere: Mit 16 Jahren holte Cranko sie aus der Ballettschule in die Kompanie, danach bekam sie vom Land Baden-Württemberg ein Stipendium, um ein halbes Jahr an die Royal Ballet School zu gehen – nicht etwa, um an ihrer Technik zu feilen, sondern um „meinen Horizont zu erweitern“, so legte ihr Cranko ans Herz. Zurückbeordert wurde sie, um mit 18 Jahren die Rolle der jüngsten Schwester in Kenneth MacMillans „Las Hermanas“ zu kreieren, eine sehr dramatische Rolle, die ihr damals nicht leicht fiel: „Ich war soo schüchtern“. Das gab sich im Lauf der Zeit, schon bald bejubelte Clive Barnes sie in der New York Times als „die größte deutsche Ballerina seit Fanny Elßler“ – und dennoch wurde sie an diesem Nachmittag nicht müde, Crankos Verdienst an ihrer künstlerischen Laufbahn hervorzuheben, ihr unendlich großes Glück, zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein.

Richard Cragun, der warmherzig Komplimente an sämtliche Kollegen verteilte und Keil wegen ihrer tollen Beine „die Marlene Dietrich des Balletts“ nannte, war also tatsächlich der einzige, der in Stuttgart vortanzen musste – eher pro forma, denn John Cranko hatte ihm bereits versprochen, ihn zu engagieren. Binnen kurzer Frist musste der junge Amerikaner dann plötzlich alle Rollen Ray Barras übernehmen: „Ray war für uns der Held“, sie alle hätten „geweint wie die Babys“, als Barra einen Unfall hatte, der seine Bühnenkarriere beendete. Von ihm hätte er das Partnern gelernt, so Cragun, der in vielen Rollen erst hineinwachsen musste: „Erst mit Petruchio habe ich vielleicht meine Nische gefunden“. Cranko, der feine Beobachter seiner Tänzer, hätte ihm die Rolle zum Geschenk gemacht, „damit Marcia am Schluss auf den Knien vor mir liegt“, lachte Cragun.

Vom legendären Gastspiel in New York wurde gesprochen, aber wichtiger war Cragun eine Geschichte aus Israel, wo sich nach der Aufführung zunächst keine einzige Hand rührte, weil die Stuttgarter Kompanie Deutschland repräsentierte – und als endlich einer anfing zu klatschen und dann der ganze Saal applaudierte, da hätten sie alle geheult auf der Bühne, die Amerikaner, Brasilianer oder Kanadier, und waren stolz darauf, was sie für Stuttgart und Deutschland erreicht hatten. Cragun war es auch, der an den 2008 verstorbenen Heinz Clauss erinnerte, die „fünfte Initiale“ und „ein ganz anderer Typ von Onegin“. Eine amerikanische Ballettzuschauerin hätte ihm einmal erklärt, so Cragun, dass die Buchstaben „R.B.M.E.“ die Worte „Remember me“ ergeben. Und sie erinnerten sich, zum Beispiel an die Freiheit, die Cranko ihnen immer während des Choreografierens gegeben hätte. Kenneth MacMillan dagegen wusste ganz klar, was er sehen wollte.

In den lebendigen Erzählungen war man plötzlich mittendrin in der Entstehung der großen Klassiker, etwa beim schwierigen Pas de trois für Romeo, Mercutio und Benvolio in „Romeo und Julia“: Barra hatte sich gerade den Bauch in der Kantine mit Maultaschen gefüllt, als es Cranko einfiel, freigiebig Double Tour an Double Tour zu reihen - ächz. Barra erzählte auch vom Solitär-Spiel Onegins im zweiten Akt, bei dem ihm eines Tages der auf alt geschminkte John Neumeier über die Schulter sah und ihm spontan bedeutete, wo er die Karte hinlegen müsse: „Das ist seitdem dringeblieben“, genau wie Barras Klettertour in Julias Grab hinunter, den Cranko wollte ihn eigentlich hinausrennen und unten wieder hereinkommen lassen.

„Er hatte so großes Vertrauen in seine Tänzer und hat uns das Gefühl gegeben, dass wir Unglaubliches leisten können“, sagte Birgit Keil, deshalb probten und probierten sie bis zum Umfallen für ihn. Auch ganz wörtlich, wie Cragun, der eine von Crankos unmöglichen Ideen zu verwirklichen suchte und mit dem Satz belohnt wurde „Also ganz kurz, bevor Du hingefallen bist – das hat mir gut gefallen!“ Cranko hätte immer gewünscht, dass die etablierten Tänzer die Jungen in der Kompanie unterstützen, erklärte Birgit Keil das familiäre Betriebsklima in Stuttgart: „John hat immer die Jugend gefördert“. Im Winter nach Crankos Tod entstand Glen Tetleys „Voluntaries“, das mit Craguns Worten „den Übergang von der Erde zum Himmel“ zeigt. Birgit Keil: „Der Geist Johns war so stark, und Tetley hat es verstanden, diesen Moment in diesem Stück einzufangen.“ Offensichtlich wirkt der Geist weiter, seit 1973: „Das wird nie sterben, das wird immer hier sein“, formulierte es Georgette Tsinguirides. Zum Schluss war es wie früher, die Zuschauer trampelten und die vier Ballett-Ikonen mussten sich immer wieder verbeugen.

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