So stirbt eine Primaballerina
Ein Nachruf auf Ludmilla Naranda
„blackOut“ mit Werken von Henning Paar und Fernando Melo im Gärtnerplatztheater
Tanzchef Hans Henning Paar hat das Münchner Gärtnerplatztheater seit 2008/09 mit interessanten Abenden – abwechselnd zwischen erzählenden und abstrakten Arbeiten – mehr als gut bedient. Die nächste Saison wechselt er mit Intendant Ulrich Peters nach Münster. Kein freiwilliger, nach unserer Meinung zu früher, aber von ministerieller Seite gewollter Wechsel: ab Herbst 2012 tritt hier der Klagenfurter Intendant Josef Köpplinger mit seinem aktuellen Hauschoreografen Alfred Karl Schreiner als neuem Tanzchef an. Man liegt wohl nicht falsch, wenn man hinter dem Titel „BlackOut“ (aufs Theater bezogen: „Auslöschen aller Rampenlichter“) von Paars Auftakt-Abend zu seiner letzten Münchner Spielzeit einen deutlichen Zaunpfahl-Wink vermutet.
In seinen gemischten Abenden hat Tanzchef Henning Paar immer wieder auch interessante Gäste präsentiert. Diesmal war es der Brasilianer Fernando Melo (zur Zeit Tänzer und Choreograf im schwedischen Göteborg Ballett) mit einer Kreation, die verschiedene Facetten menschlicher Verletzlichkeit beleuchten will. Unmittelbar durch seine Choreografie gelingt ihm das kaum. Aber: in der Gesamtatmosphäre. Im fein phrasierten Zusammenklang von schlagartig einfallendem Licht, hohl-dumpfen Schlägen, zuknallenden Türen, klirrend zerbrechendem Geschirr und der ausgesprochen bildnerischen Bühne von Rundum-Künstler Patrick Kinmonth: Mit einem einzigen hellweißen Urinal – das Marcel Duchamps Readymade-Urinal „Fountain“ zitiert –, angebracht an einer frontalen, rechts im schrägem Winkel bühnenrückwärts weitergeführten Kachelwand entsteht ein Toiletten-Raum: ein intimer Raum, der den Besucher unweigerlich aussetzt – ihn verletzlich macht.
Hier verweilen und ziehen durch: zwei alptraumhaft minimal bewegte Männer in Kapuzen-T-Shirts, einer der Schatten des anderen; Ein blechern scheppernder Ritter, der sich am Urinal erleichtert – und sich als Frau entpuppt; Paare, die in heftiger Bewegung, aufrecht, geduckt, liegend und wieder aufrecht, immer in körperlichem Kontakt bleiben – von Kopf zu Nacken zu Rücken; vier Tänzer, die jonglierend und balancierend auf, an, mit und über einem Brett zur behenden Artistentruppe werden. Im weitesten Sinne verletzlich sind natürlich diese Figuren in ihren prekären Aktionen. Aber die eigentliche „Wirk-Aussage“ des Stücks ist doch eher die geheimnisvolle surreale Bildkraft dieser Szenen. Choreograf Melo und Ausstatter Kinmonth haben genial zusammengearbeitet: Tanz wird hier zur „animierten“ Fotografie. Und Kinmonths Kostüme (er hat umfangreiche Kenntnis in Modedesign): Kapuzen-Shirt, Ritterrüstung oder durchsichtiges Spitzenkleidchen, sind darin Zeichen von Verletzlichkeit und Abwehr in einem.
Auch Henning Paars Kreation mit dem Titel „Schwarz“ strebt, mit Hilfe seiner Bühnen-Designerin Isabel Kork, hinüber in die bildende Kunst: Die Nicht-Farbe „Schwarz“, in Körper und Bewegung übersetzt, soll den Zuschauer zu eigenen Deutungen anregen. Korks übereinandergestaffelte Reihen verschieden großer, leicht gewölbter Rechtecke lassen, bei grauschattigem Licht, zunächst an die Kuben und Zylinder des französischen Malers Fernand Léger denken. Durch Rolf Essers trickreiches Beleuchtungsdesign entsteht im Hintergrund auch so etwas wie ein „schwarzes Loch“, aus dem heraus das Ensemble, fast unwirklich, ins Rampenlicht tritt. Bei der schwarzen Körperbemalung der Tänzer und ihren skurrilen Gesten – zum quietsch-sägenden Rhythmusgeber „Black Angels“ von George Crumb – fühlt man sich zurückversetzt in die Zeit der amerikanischen „Negro-Minstrels“, dieser im 19. Jahrhundert beliebten Varieté-Shows, in denen schwarz geschminkte Weiße die Musik und die Tänze der Schwarzen nachahmten und parodierten. Man mag in diesem Stück auch Assoziationen zu dunklen Märchen, Hexen und Schamanen haben. Aber die Ideen hätten ausgearbeitet werden müssen – da hat dem Tanzchef offensichtlich ein Stück Zeit gefehlt. Und vielleicht liegen ihm solche bildnerischen Grenzgänge auch weniger.
Eine ganz andere Sache ist sein „B(r)achland“ (auf leerer, "bracher" Bühne): reiner jubilierender Tanz zu Bachs Klavierkonzert Nr. 1. In weißen Hosen, Strick-Tops und Strick-Kleidchen tänzeln und fliegen seine Bewegungskönner immer wieder aus den Kulissen auf die Bühne: in großer Gruppe und einzeln; lassen Henning Paars hier neoklassisch grundierte, aber luftig modern ausschwingende Tanzsprache, hohe Hebungen inklusive, nur so aus ihren Wunderkörpern fließen. Sie liefern mit Pirouetten gespickte Allegros, so fußschnell, dass das Auge kaum mitkommt. Und im Adagio schweben sie federleicht umeinander. Spannend im und gegen den Rhythmus choreografiert, einfallsreich im Schrittmaterial, mit diesem „B(r)achland“ – oder besser „Bach-Land“ – ist Henning Paar international konkurrenzfähig.
weitere Termine: 31.10., 5., 15. und 18. 11.; 30. 12.
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