„Every single day“ von Toula Limnaios. Mit Maria de Dueñas López, Fredy Alexander Carrillo Ahuma, Antonios Vais, Amit Preisman (v.l.n.r.).
„Every single day“ von Toula Limnaios. Mit Maria de Dueñas López, Fredy Alexander Carrillo Ahuma, Antonios Vais, Amit Preisman (v.l.n.r.).

Von der Sinnsuche in dieser Welt

In der Halle Tanzbühne genießt Toula Limnaios „every single day“

Berlin, 05/08/2011

Mit Torf ausgelegt ist die Szene der Halle Tanzbühne, hinten links schaufelt ein Mann mit freiem Oberkörper Torf auf einen eh schon hohen Berg. Neben ihm steht auf flachem Podest eine Frau – Göttin, Priesterin, Idol, in typischer Toula-Limnaios-Pose: Haar verdeckt ihr Gesicht, die Arme senden gestische Zeichen aus. Dann zerrt der Mann eine rechts vorn tief unterm Torf vergrabene Frau hervor, schleppt sie an den Füßen, zieht dabei Spuren im Untergrund und wirft sie rüde auf den Berg. Da tauchen hinter dem Hügel vier weitere Gestalten auf, tragen die Geworfene in den Raum. In der Schwebe scheint sie zu gehen, bis sie abkippt und wieder auf dem Hügel landet. Das wiederholt sich mehrere Male, stets dringt der Pulk weiter auf der Diagonalen vorwärts. Es dauert eine Weile, ehe jene Frau ihre erdverklebte Vollmaske ablegen darf und Mensch wird.

Worum es Toula Limnaios, einer der wenigen singulären Konstanten in Berlins zeitgenössischem Tanz, geht, hat allerdings schon das beeindruckende Eingangsbild erzählt: Sisyphos, Held im griechischen Mythos, stellt sich seiner Dauerstrafe, etwas zu vollbringen, das ihm kurz vorm Ziel je wieder zerstört wird und ihn so zum Neubeginn zwingt. Auf Albert Camus‘ Umdeutung des korinthischen Königs in der Schrift „Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde“ bezieht sich die griechische Choreografin in ihrem reichlich einstündigen Stück. Dass aber, wie Camus folgert, Sisyphos ein glücklicher Mensch gewesen sein muss, vielleicht weil er eine permanente, wiewohl abstrakte Aufgabe hatte, mag man bezweifeln. Und auch Ralf R. Ollertz‘ elektronische Musik setzt Atmen, Schreie, Ächzen, hechelndes Geräusch ein und suggeriert so eher Angstzustände.

Im Gemeinschaftstanz der Gruppe mit unerbittlichem Zählen wird die gesichtslose Göttin weitergereicht, bis sie Teil des Ganzen ist. Der erdige Kampfraum mutiert zur Arena virtuos abstrakter Rituale. Umklammerte Paare wälzen sich geschwind und werfen dabei Torf um sich, auf Ansprünge Stehender folgt Fortstoßen der Springer, Tänzer hängen leblos an ihren Partnern, rutschen ab, werden eingegraben. Jeder scheint einsam dem mechanischen Funktionieren ausgesetzt. Eine Frau wird von zwei Männern hoch gestemmt, aus dem Wurf aufgefangen und über ihren liegenden Ex-Partner geschleift, den sie im Vorwärtsmarsch mitzieht. Immer wieder beladen sich Menschen mit Torf, der freilich bei jeder Bewegung abfällt, indes Verkrustungen hinterlässt. Auf diese Weise entrücken die Gestalten zunehmend ihrem Menschsein hin zu sich bewegenden Erdsymbolen. In Erde, jenes fruchtbare Element, aus und zu dem Leben wird, stecken sie ihre Köpfe, graben sich darin bis zur Hüfte ein, als sprössen sie, Pflanzen gleich, hervor.

Konsequent hält Limnaios die Geschlechter auf Abstand. Während die vier Frauen sirenenhaft ekstatisch tanzen, zerrt einer der Männer fallend seine beiden Kollegen vorwärts. Wenn sich der Laut-Collage neben Vogelzwitschern leis auch ein Quintett Franz Schuberts beimischt, straft die Szene jenen Frieden Lügen: Eine Frau wird zugeschaufelt, eine andere zittert im Weinkrampf. Die Beschippte tobt sich sauber, ein Mann lässt seine Partnerin fliegen, eine Frau tanzt ein brillant erfundenes Solo. Enorm eindringliche Bilder gelingen Toula Limnaios in einer ihrer dichtesten Kreationen, in der sie kompromisslos die Tänzer dem Element Erde aussetzt. Dass sie alles in Tanz formt, ohne jede bloße Aktion, und Bewegungsmotivik verwendet, ist weiterer Vorzug dieser Suche nach Freude in der Pflichterfüllung, ganz im Sinn des indischen Denkers Tagores. Keinen Moment lässt die Spannung nach, im Finale gelingt nochmals eine Steigerung. Die Frauen streifen Langkleider über und transportieren in den Röcken Torf vom alten Berg hinten zu einem neuen vorn, bis sie ermattet zusammenbrechen und mit eingebuddelt werden. Auch die Männer schleppen im T-Shirt oder mit bloßen Händen Erde heran, sinken auf die Frauen. Nur ein Paar überlebt und eine keuchend schuftende Frau. Als über allem das Licht erlischt, hat auch Limnaios‘ neu formierte internationale Truppe Großes geleistet: im Tanz und in der Inspiration für die Choreografin.

www.toula.de

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