Aus der eigenen Zeit neu gedacht
Schubert-Zenders „Winterreise“ in Münster
Susanne Linke choreografiert für das Tanztheater Münster „Meinstream“ nach Daniil Charms
„Mit leichtsinnigem Geschwafel / und belanglosem Getön / saß ich lässig an der Tafel / unbewegt und wunderschön“. Die ironische Selbstdarstellung eines vermeintlich Reichen und Schönen unserer Tage stammt aus der Feder des russischen Dissidenten Daniil Charms, notiert kurz vor seinem Tod 1941 im Gefängnis. Die Werke des 1905 Geborenen, zumeist handschriftlich gerettet von einem Freund, erschienen erst 2010 in vierbändiger deutscher Ausgabe. Die Berliner Volksbühne machte vorige Woche an einem ihrer „Leseabende“ auf den Dadaisten und Surrealisten aufmerksam. Susanne Linke hatte ihn längst für ihre neue Choreografie mit dem Münsterschen Tanztheater entdeckt. So amüsant der absichtsvoll oberflächliche Vierzeiler, auf dem Programmfaltblatt abgedruckt, berührt – so schwer verstehbar ist er als Leitspruch für Linkes Tanzstück „Meinstream“. Wohl wahr: Unter der Oberfläche brodelt’s; der schöne Schein trügt bei Charms wie bei den diesmal ganz besonders elegant daherkommenden Tänzern. Aber die geistvolle, bittere Skurrilität dadaistisch gestammelter Reime, absurder Monologe und Zwiegespräche erstickt in der Tristesse des kurzen Abends, einem Abgesang in tiefer Trauer.
„Meinstream“ impliziert, in Abwandlung des Modeworts „Mainstream“ (Massengeschmack), jedem sein eigenes Ding. Das könnte mit der nötigen Prise Selbstironie und Gelassenheit unterhaltsam werden. Daraus aber wurde leider nichts. Zu deutlich waren die Gesichter der sechs Tänzerinnen und vier Tänzer gezeichnet vom bevorstehenden Ende der 16-jährigen Ära Goldin, zu sehr geprägt vielleicht auch von dessen Melancholie. Wenig ist zu spüren von Aufbruch, Zuversicht, Hoffnung auf „ein Neues“. Todesahnung hat Münsters „Kleines Haus“ der Städtischen Bühnen wieder einmal fest im Griff. Einer Grabeskammer gleicht der völlig umgestaltete Raum. Die schwarzen Holzpanelen an den Wänden reichen bis zur Decke. Galerie und Bühne sind verschwunden. Zweimal vier lange Stuhlreihen flankieren eine gepflasterte Straße (Bühne: Matthias Dietrich), die zum Catwalk wird für eine Modenschau - einen Trauerzug, ein Spießrutenlaufen. Am einen Ende steht eine Flügeltür weit offen, am anderen lugt eine erhöhte Nische mit Tisch und zwei Stühlen behaglich. Das Publikum „gafft“, die Tänzer starren ins Leere. Wozu diese Nähe, wenn nicht die kleinste Koketterie erlaubt ist, kein einziger wie auch immer gearteter Blickkontakt?
Dezent begleitet eine Toncollage von Wolfgang Bey-Borkowski mit Vogelkreischen, leisen Paukenschlägen und Sphärenklängen der Berliner Techno- und Elektro-Produzentin Ellen Allien die Szenen. Gegen Ende liegen fast alle wie brave Chorknaben mit winzigen schwarzen Hockern als harten Ruhekissen am Boden – aus den Uhrenschlägen wird Glockenläuten, gefolgt von einer elegischen Kantilene à la Tschaikowski vom legendären Cellisten Pablo Casals komponiert und eingespielt. Da winden sich die Frauen in engen Kleidern wie sterbende – nein, nicht Schwäne, sondern eher wie Raupen.
Dabei beginnt alles so herrlich theatralisch. Mit einem schwarzen Kleiderständer tändelnd, tänzelt Paul Hess als Modezar herein – gewandet zwischen Zirkusdompteur und General (mit Napoleon-Zweispitz). Hastig stolpert seine Assistentin Hanako Yamaguchi hinterher, überladen mit bauschigen Krinolinen, Polsterungen, Kopfputz für die Modenschau. Es folgt das Entrée der Models, deren bleiche Gesichter kaum auszumachen sind unter schwarzen Rüschen, aufgetürmten Frisuren, ausladenden Hüten und Krägen (Kostüme: Rupert Franzen). Was für eine berauschend bizarr-schöne Szene – dieses hochelegante Defilee, das wie ein Danse macabre anmutet. Danach entledigen sich alle mehr und mehr des barocken Fummels, treten in Unterwäsche auf, wirken immer gehetzter. Die nackte Angst spricht aus den Gesten. Nun also führen sie nicht mehr die fantasievollen Kreationen ihres Meisters vor. Jetzt müssen sie die eigene Haut zu Markte tragen. Stotternd und stammelnd stellen sie mit ausladenden Gesten, kleinen Fingerzeigen in pseudo-realer Gebärdensprache ihre Ängste bloß. Jeder macht sein eigenes Ding, ist bemüht, sein künstlerisches Potential, die Quintessenz seines / ihres Tänzer-Sein-Müssens zu formulieren und feil zu bieten. Wie das aussieht, haben sie hinlänglich oft vorgeführt in Goldins Stücken und „Werkstätten“. Immerhin gelingt es Linke aber, Raffinement und Eleganz vor allem in aparte Arm- und Handkapriolen zu zaubern. Bleibt zu hoffen, dass Daniel Goldin mit seiner Abschiedschoreografie Ende Mai den Charme und die Poesie seiner Anfangszeit zurückholen kann.
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